Joanna Bourne
umgebracht, als Ihr in der Armee wart?« Er blickte mit der ihm typischen, nichtssagenden Miene von den über dem Feuer röstenden Würstchen auf.
»Wisst Ihr, ich glaube, ich habe noch nie jemanden getötet, außer beim Operieren.« Sie schürte das Feuer. »Mag sein, dass einige Männer, auf die ich böse war, mittlerweile an den von mir zugefügten Messerwunden gestorben sind, doch das ist etwas, was sich nicht vermeiden lässt. Meiner Meinung nach gibt es viel zu viel Mord und Totschlag auf der Welt.«
»Da muss ich Euch zustimmen.«
»Das war das letzte wirklich Wichtige, das mein Vater zu mir sagte, ehe sie ihn hängten. Dass Töten die falsche Antwort ist, nicht die weise. Ich habe gemerkt, dass etwas Wahres daran ist.«
»Ihr habt nie getötet?« Sein Blick war eindringlich, forschend, abschätzend.
»Nicht, dass ich wüsste.« Sie schaute ihn über das Feuer hinweg an. »Doch ich will Euch etwas von mir verraten, Robert, das nicht so nett ist. Der Mann, der mich als Erster angegriffen hat … Ich habe ihm die Daumensehne durchtrennt. Sie verheilt nicht, so eine Wunde. Mit seiner rechten Hand wird er nie wieder ein Messer oder etwas Ähnliches halten können. In seinem ganzen Leben nicht mehr. Ich bin kein besonders netter Mensch.«
»Vielleicht würde Euch sein nächstes Opfer da widersprechen. Na bitte, nun habt Ihr mir eines Eurer moralischen Rätsel aufgegeben. Nehmt Euch eine Wurst, während ich darüber nachdenke.« Er streckte ihr das Stockende entgegen, damit sie die Wurst mit einem Stück Brot umfassen und vom Stock herunterziehen konnte. Näher würde er ihr nicht kommen.
Er vermied es, sie zu berühren. Zwar hatte er nicht von einer Ehefrau gesprochen, aber sehr wahrscheinlich existierte eine, der er die Treue hielt. Die Frau hatte Glück … seine Frau.
Sie hatte Robert Fordham in den Tagen des gemeinsamen Weges regelrecht auswendig gelernt. Sie kannte den Verlauf jeder einzelnen Falte auf seiner Stirn. Auf der linken Hand hatte er eine blasse, geschwungene Narbe vom unvorsichtigen Umgang mit einem Angelhaken. Sie konnte mit geschlossenen Augen sagen, wie er sich bewegte. Manchmal blieb ihr der Atem weg, wenn er auf der Straße einen Blick zurückwarf und seine Muskeln dabei tanzten wie Poesie.
Dies war das Geschenk, das ihr Gedächtnis für sie bereithielt. Sie trug Robert jetzt in sich, sogar die Linien seiner Handflächen. Sie würde ihn nie mehr vergessen. »Morgen werden wir in London sein.«
»Noch vor dem Nachmittag, wenn wir weiterhin so gut vorankommen. Hattet Ihr vor, die Nacht unter einer Brücke zu verbringen?«
»Dort, oder in einer Allee. Ich werde nicht viel Schlaf bekommen. Meine kleine Angelegenheit ist in wenigen Tagen erledigt. Dann werde ich mich schleunigst davonmachen. Städte sind nicht besonders freundlich zu Frauen ohne Begleitung und Geld.«
»Ich kenne da einen sicheren Ort in der Nähe von Covent Garden. Den kann ich Euch zeigen.«
Wie sehr sie sich wünschte, bei ihm an seinem sicheren Ort in der Nähe von Covent Garden zu bleiben. Sie biss ein Stück Wurst ab und kaute. »Da ist Nelkenpfeffer drin. Zuweilen finde ich die englische Küche recht interessant. Robert … « Sie war froh, dass es dunkel war. Manche Dinge ließen sich nur im Dunkeln aussprechen, aber nicht bei Tageslicht. »Ihr dürft mich nicht nach London rein begleiten. Morgen früh, wenn wir die Stadtgrenze von London überschreiten, werde ich Euch fortschicken, auf Eure Reise nach Somerset.«
»Nein, das werdet Ihr nicht.«
Sie seufzte. »Ich nehme an, Ihr wisst, dass ich Euch begehre.«
»Ja.«
»Das liegt wohl daran, dass Ihr mir das Leben gerettet habt. Und an diesem Mann, der bei mir in Frankreich war. Ich habe Euch noch nicht von ihm erzählt.«
»Stimmt.«
Sie aß bedächtig weiter und suchte nach den richtigen Worten. »Es war eine Art Irrsinn, von dem ich befallen wurde, als ich mich allein und ohne Freunde in großer Gefahr befand. Durch ihn habe ich mich verändert. Er hat mich verlassen … wahrscheinlich, würdet Ihr sagen, um bereit für Euch zu sein. Dass Ihr mir das Leben auf so tapfere Weise gerettet habt und mich so freundlich beschützt, macht mich zu einer Närrin.« Sie dachte eine Weile nach. »Dass ich mich in ihn verliebte, geschah auf ziemlich kompliziertem Wege. Und ich liebe ihn noch immer. Trotzdem muss ich feststellen, dass es mich nicht vor meinem Verlangen nach anderen Männern schützt, was mir ziemlich unangenehm ist. In meinem Kopf ist ein einziges
Weitere Kostenlose Bücher