Joanna Bourne
ist. Ich nehme an, dass sich in den letzten tausend Jahren nicht viel daran geändert hat. Sicher ist jedenfalls, dass es noch immer Regen gibt.«
Zum Putzen seines Hardings hatte er den schwarzen Pullover ausgezogen, sein Hemd weit aufgeknöpft und die Ärmel hochgerollt. Er war braun, wie es auf See arbeitende Männer werden, und hatte eine von Wind und Salzwasser gegerbte Haut. Im schwachen Schein des gelb leuchtenden Feuers bot er eine stämmige, dunkle Gestalt mit der Härte von Felsen oder Baumstämmen; unnachgiebig und wunderschön.
Früher hätte sie ihn und die Stärke seines Pferdes bewundern können, und es hätte keinen Unterschied gemacht. Da war sie noch auf gewisse Weise unschuldig gewesen. Ihre Zeit mit Grey hatte sie weiser und unendlich dümmer werden lassen. Und wenn sie jetzt Robert Fordham betrachtete, dann kam sie ins Schwärmen wie ein Schulmädchen und war erregt, was äußerst beschämend war.
Sie wollte den Blick gar nicht abwenden und etwas weniger Beunruhigendes ansehen. Ihre Stärke war dahin.
Das Feuer entwickelte sich prächtig, sodass sie in Kürze ein Essen damit zubereiten konnte. »Es ist nicht recht, wenn wir Franzosen hier einmarschieren.« Sie warf Robert einen Blick zu. »Oh, Ihr lächelt, aber das ist einem nicht klar, wenn man Franzose ist. Ohne Frage wäret Ihr Engländer ohne Eure dummen kleinen deutschen Prinzen, die nur öffentliche Gelder verschwenden, besser dran. Ihr solltet eine Republik und Wahlrecht für alle haben.«
»Und das würde Napoleon uns bringen?«, fragte Robert leise.
»Zumindest anfangs.« Ihr Leben wäre weniger kompliziert, wenn sie nicht immer so viel nachdenken würde. »Napoleon würde hier einiges verbessern, aber zu einem hohen Preis. Wenn er auf diese grüne Insel kommt, wird er all die hübschen Landhäuser niederbrennen, an denen wir heute vorbeigekommen sind.«
»Das könnt Ihr nicht verhindern, Annique.«
Doch, das konnte sie. Sie hatte die Wahl, ob diese Häuser und mit ihnen die drallen Bauersfrauen und die barfüßigen Kinder in Flammen aufgingen. In dem Moment, als ihr Vauban vor sechs Monaten die Albion-Pläne in der Brügger Schenke anvertraut hatte, war es zu ihrer Angelegenheit geworden.
Wenn sie England die Pläne übergab, wäre sie eine Verräterin. Es würde sie das Leben kosten. Und Vauban würde nachts aus dem Bett gezerrt und mit Schimpf und Schande zur Guillotine geführt werden. Und fortan wäre Frankreich aufgrund der detaillierten Informationen, die die Briten durch sie erlangt hatten, in großer Gefahr. Aber die Kinder in dem weißen Landhaus die Straße runter würden leben.
Oder auch nicht; wie sollte sie das wissen. Vielleicht würden stattdessen genauso unschuldige Kinder sterben. Schicksal für Nationen zu spielen, war eine grausame Sache.
Vor einem Jahr noch hätte sie Soulier in London aufgesucht, ihm alles in den Schoß gelegt und seine Befehle befolgt. Doch sie war kein Kind mehr, und ihre Antwort konnte nicht derart einfach ausfallen.
Vorsichtig legte sie noch ein kleines, quadratisches, orange glühendes Kohlestück auf die Seite, was sie mit höchster Aufmerksamkeit tat und ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Sie musste sich ja noch nicht heute entscheiden.
Robert wühlte in dem Korb, den er vor einer Stunde beim besagten Landhaus erhalten hatte. Unter dem rot geblümten Tuch befanden sich die tollsten Dinge – Würstchen, Brot und kleine braune Eier. Das war noch so etwas, womit sie sich nicht auskannte.
Sie beobachtete ihn beim Stöbern. »Ich hätte mich nicht getraut, um Essen zu bitten. Ihr habt Mut, wusstet Ihr das?«
»Weil ich dem schrecklichen Kenter Bauern in seiner Höhle gegenübergetreten bin?« Er breitete das Tuch zwischen ihnen aus. »Sie sind gar nicht so gefährlich.«
»Er hätte die Hunde auf Euch hetzen können. Ich mag Hunde nicht.«
»Das werde ich mir merken.«
Dort, wo der Schein des Feuers auf seine Brust fiel, glänzten die Haare golden. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie sein Hemd ergriff, den letzten Knopf öffnete und es ihm auszog. In ihrer Fantasie tat sie es bereits.
Bei so vielen Haaren würde er sich pelzig anfühlen, aber seine Haut wäre so kräftig wie Leder. Grey hatte eine Lederjacke getragen. Er hatte sie ihr umgelegt, damit sie nicht fror, während die Droge sie übermannte und wieder von ihr wich. Wenn sie sich mit der Wange an Robert schmiegte, würde er sich wie dieses Leder anfühlen und zugleich von einer Zartheit sein, die jedoch
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