Joanna Bourne
grausame Männer. »Noch ein Schlüssel. Englisches Geld. Französisches Geld. Gribeauval-Pistolen. Die sind erstklassig. Die Jacke ist französisch. Sein Hemd auch. Er muss Euch aus Frankreich gefolgt sein.«
»Aber natürlich. Gewiss habe ich die Engländer beleidigt, aber bisher noch nicht so arg, dass sie mir nach dem Leben trachten würden.«
»Er wird uns nichts mehr verraten. Packt zusammen. Leblanc hat vielleicht noch weitere zehn Mann, die da draußen in der Dunkelheit auf uns lauern.« Schon war er auf den Beinen und stapfte auf Harding zu, um ihn loszubinden.
Sie brauchte nur zwei Minuten, um bereit zu sein, weil es nicht ihr erster abrupter Aufbruch war. Außerdem hatte sie es sich während ihrer Blindheit angewöhnt, alles ordentlich wegzulegen und gut einzuprägen, wo sich was befand, sei es auch noch so klein. Daher war sie fertig, als Robert aufstieg, herkam und ihr seinen Arm entgegenstreckte, um sie vor sich in den Sattel zu ziehen.
Gut, dass sie so klein war. Harding würde sie eine Zeit lang beide tragen können, obwohl es für ihn nicht gerade bequem sein konnte. »Ich habe gar nicht gewusst, dass Ihr eine Waffe hattet. Wo war sie?«
»In meiner Jackentasche. Eine Duellierpistole von Manton. Ich habe sie Euch nicht gezeigt, um Euch keine Angst zu machen.« Harding suchte sich seinen Weg durch unebene, gepflügte Felder. Dann kamen sie auf die Straße und konnten Tempo aufnehmen.
Es war eine klare Nacht, und die Mondsichel war gen Osten gekrümmt. Sie gab so viel Licht ab, dass die Bäume entlang der Straße lange Schatten warfen. Über ihnen standen Millionen von Sternen.
»Werden sie uns aufknüpfen, wenn sie uns kriegen?« In England wurden Männer schon für den Diebstahl von Brot gehängt. Da brachte man einen Mörder erst recht an den Galgen.
»Nein.«
»Ihr scheint Euch sehr sicher zu sein.«
»Ich bin mir sicher. Macht Euch deswegen keine Sorgen, Annique.«
Er saß aufrecht und steif im Sattel. Vielleicht hatte ihn die Konfrontation mit dem Tod, genau wie sie, einerseits angewidert, andererseits aber auch ehrfurchtsvoll verstummen lassen. Oder er achtete auf das Geräusch sich von hinten nähernden Hufschlags, was bedeuten würde, dass sie verfolgt wurden.
»Werden die Bauern nachsehen, warum Schüsse gefallen sind? Oder haben sie Angst?«
»Sie werden keine Angst haben, sondern denken, dass jemand Rehe wildert.«
Er hatte recht. Das hier war England. Das sichere, friedliche England, wo niemand an Mord dachte, wenn in der Nacht Schüsse fielen.
Er hob die Zügel an. »Man wird ihn nicht vor morgen früh finden. Bis dahin sind wir längst fort.«
Sie trabten, was ziemlich unbequem und schmerzhaft war. Schließlich verfielen sie wieder in Schritt, und sie konnte Hardings Mähne endlich wieder loslassen, was auch für ihn bestimmt angenehmer war. Sie lehnte sich an Roberts Brust. Er legte einen Arm fest um sie, als fürchte er, dass sie ihm plötzlich entschlüpfen könnte.
»Danke, dass Ihr auf mich achtgebt«, sagte sie. »Es tut mir leid, dass Ihr ihn töten musstet, auch wenn Ihr daran gewöhnt seid. Es ist sehr schlimm, einen Menschen umzubringen.«
»Es hat mir nichts ausgemacht. Ich habe gar nicht gut auf Euch aufgepasst. Hätte er präzisere Waffen gehabt, wäret Ihr jetzt tot. Es tut mir leid.«
»Aber ganz im Gegenteil, mon ami . Ihr habt mir jetzt schon zum zweiten Mal das Leben gerettet. Die Frau, wegen der Ihr Euch schon so lange dermaßen schuldig fühlt – die in Frankreich –, in ihrem Namen sage ich, dass hiermit Eure Schuld beglichen ist. Ihr dürft nachts wieder ruhig schlafen.«
»Noch nicht ganz.«
Was für ein starrköpfiger Mann. So einer würde neben seiner eigenen Last auch immer die von einem Dutzend weiterer Männer schultern. Seine Schmugglerbande hatte großes Glück, ihn zum Anführer zu haben. »Wie Ihr wünscht. Ich bin nicht klug genug, um Euer Gewissen zu spielen, also versuche ich es gar nicht erst.« Sie gähnte. Jetzt, da die Angst von ihr abfiel, wurde sie müde. »In meinen Augen seid Ihr ein guter Mensch, im herkömmlichen Sinne.«
Er bewegte sich im Sattel, damit sie es möglichst bequem bei ihm hatte. Sie fand, dass er sich allmählich daran gewöhnte, sie zu halten. Er roch nach der Pistole, die er abgefeuert hatte, und nach Fisch natürlich. Hätte sie einen Fischer geheiratet und wäre zu ihm ins Dorf gezogen, anstatt Spionin zu werden, dann hätte es jetzt genau so für sie sein können, dass sie nach einer gemeinsamen
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