Jodeln und Juwelen
Studententheater bis zur Wohltätigkeitsveranstaltung gepflegt werden. Emma
Kelling organisiert nicht nur alles von der Probe bis zur Aufführung, singt
nicht nur ihr angemessene Partien mit großer Bravour, sondern stellt vor allem
die Räumlichkeiten zur Verfügung. Sie hat eines der im Kelling-Clan gar nicht
seltenen riesigen Unternehmerschlösser geerbt, wie sie auch in Deutschland in
der Gründerzeit beliebt waren — Emmas Exemplar verfügt sogar über einen
theatergroßen Saal.
Mit Wohltätigkeit in jeder Form nimmt
dann auch alles seinen Anfang. Emma hat wieder einmal für die Hinterbliebenen
eines im Dienst umgekommenen Wehrmanns ein Feuerwehrfest organisiert und dazu
auch ihren Klassiker beigetragen und einen Sprung aus dem zweiten Stock in ein
Sprungtuch absolviert. Unter den zwecks mildtätiger Spenden geladenen Gästen
ist auch die in letzter Zeit sehr hinfällige Adelaide Sabine, mit deren Tochter
Emma befreundet ist. Adelaide und ihr verstorbener Mann George besitzen eine
eigene kleine Insel vor der Atlantikküste von Maine und haben auf ihr seit
Jahrzehnten eine eigene Art von Wohltätigkeit organisiert: In eigens dafür
gebaute Cottages laden sie Künstler aller Sparten ein, die sich über einen Sommer
mit Kost und Logis allererster Qualität freuen und ihrerseits zur Unterhaltung
der Sabines auf der sonst menschenleeren Insel beitragen — sie müssen sozusagen
für ihr Essen singen, wie das englische Idiom lautet. Auch in diesem Jahr sind
solche Einladungen ergangen, aber der kaum von einer schweren Krankheit
genesenen Gastgeberin hat der Arzt den Aufenthalt in der auch im Sommer recht
rauhen Einsamkeit verboten — was tun?
Sofort springt Emma ein — zum einen
hilft sie gern allen Menschen, zum zweiten liebt sie spontane Entschlüsse und
zum dritten ist sie selbst in diesem Sommer ohne ihr vertrautes Personal,
während zudem und viertens ihr eigenes Haus von ihren Kindern genutzt wird,
deren Heim gerade renoviert wird und die als Hobby von der Mutter bis zum
Jagdhund zur internen Kommunikation das Jodeln pflegen.
Bücher gibt es auf der Insel nach den
vielen Jahren der Existenz als saisonale Künstlerkolonie reichlich, so nimmt
Emma — Müßiggang ist für den Puritaner aller Laster Anfang — eine altmodische
Tasche mit dem viktorianischen Modeschmuck mit, der seit so vielen Jahrzehnten
auf der Bühne von Pleasaunce Feen- und andere Königinnen ziert, dass eine
Generalüberholung dringend angezeigt ist. »Gladstone Bag« — so der
amerikanische Originaltitel — nennt man im englischen Sprachraum nach dem
Premierminister Königin Victorias diese viereckigen Taschen mit Scharnier, die
im Deutschen meist Landärzten zur Jahrhundertwende zugeordnet werden. Ihr
Inhalt soll Emma an den langen behaglichen Sommerabenden beschäftigt halten.
Aber wir läsen keinen Roman von
Charlotte MacLeod, wenn es je zu solchen Abenden käme. Gleich bei der Fahrt mit
der Fähre, die die Insel der Sabines nur auf Verlangen ansteuert, verschwindet
die Tasche samt ihrem pseudokostbaren Inhalt, der wohl einen Dieb getäuscht
haben mag, während ihre Besitzerin offensichtlich mit einem Sedativum in einer
Tasse Kaffee betäubt wurde. Noch auf derselben Fährfahrt taucht sie auch wieder
auf - ein russischer Graf, der selbst darauf hinweist, russische Grafen seien
heutzutage ein Witz, über den niemand mehr lache, hat sie an dem einzigen Ort
auf dem Schiff gefunden, an dem Emma sie nicht suchen konnte, auf der
Herrentoilette. Graf Alexei Radunov ist so perfekt der Kavalier alter
europäischer Schule, dass er nur ein Hochstapler sein kann. Er ist übrigens
einer der Inselgäste, und mit ihm zusammen stellt sich Emma der Fünfergruppe
vor, die bis zuletzt auf der Fähre ausharrt, weil auch sie die Insel zum Ziel
hat.
Emma hat zwar von der Gastgeberin, die
sie jetzt einen Sommer lang vertreten soll, eine komplette Gästeliste bekommen,
aber schon bald ergibt sich die verwunderliche Tatsache, dass Adelaide Sabine
keinen der Eingeladenen persönlich kennt — sie würde sie nicht von einem Loch
im Boden unterscheiden können, wie ein Außenstehender amerikanisch-drastisch
formuliert. Ein angeblicher Historiker hat vier Mitarbeiter für ein Projekt
mitgebracht, zwei Zeichner, einen Schriftsteller und eine Hellseherin, und Graf
Radunov hat sich als Bekannter von Bekannten von Bekannten selbst eingeladen.
Aber auch das Projekt des Historikers
Dr. Wont hat es in sich: Eine Insel ist natürlich bei Charlotte MacLeod
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