Joe Kurtz 01 - Eiskalt erwischt
dem Fahrstuhl vor der Intensivstation des Westflügels. Der Mann hatte einen kleinen Blumenstrauß dabei. Er schien Mitte 50 zu sein, mit traurigen Augen, einem etwas entrückten Blick und der Andeutung eines Lächelns unter dem sauber gestutzten, ingwerfarbenen Schnurrbart. Er trug teure schwarze Handschuhe.
»Es tut mir leid, Sir, aber die Besuchszeit ist vorbei.« Die Stationsschwester hielt ihn mit ihrem Blick auf, bevor er sich auch nur drei Schritte vom Fahrstuhl entfernt hatte.
Der große Mann blieb stehen und wirkte noch verlorener. »Ja ... es tut mir leid.« Sein Englisch besaß einen europäischen Akzent. »Ich bin gerade erst aus Stuttgart eingetroffen. Meine Mutter ...«
»Sie können sie morgen früh besuchen, Sir. Die Besuchszeit beginnt um 10:00 Uhr.«
Der Mann nickte, wandte sich zum Gehen, drehte sich dann wieder um und streckte die Blumen wie eine Waffe in ihre Richtung aus. »Mrs. Haupt. Sie haben Sie doch auf Ihrer Liste, oder? Ich bin gerade aus Stuttgart eingetroffen und mein Bruder meint, Mama befindet sich in einem sehr kritischen Zustand.«
Bei Erwähnung des Namens schielte die Schwester kurz auf ihren Computermonitor. Was sie zu Gesicht bekam, brachte sie dazu, sich auf die Lippe zu beißen. »Mrs. Haupt ist Ihre Mutter?«
»Ja.« Der große Mann im Regenmantel trat nervös von einem Fuß auf den anderen und starrte den Blumenstrauß an. »Es sind schon zu viele Jahre vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Ich hätte früher kommen sollen, aber die Arbeit ... und jetzt muss ich morgen auch schon wieder zurückfliegen.«
Die Stationsleiterin zögerte. Schwestern und Pfleger hasteten hin und her und brachten den Patienten vor dem Einschlafen die letzten Medikamente. »Sie müssen wissen, Mr. ... Haupt?«
»Ja.«
»Es ist so, Mr. Haupt: Ihre Mutter liegt jetzt schon seit mehreren Wochen im Koma. Es macht keinen Unterschied, ob Sie ihr einen Besuch abstatten oder nicht.«
Der Mann mit den traurigen Augen nickte. »Aber für mich macht es einen Unterschied, ob ich sie sehe oder unverrichteter Dinge wieder nach Deutschland zurückfliege.«
Die Schwester bekam tatsächlich feuchte Augen. »Hier den Flur hinunter, Sir. Mrs. Haupt liegt in einem der Privatzimmer. 1108. Ich schicke Ihnen in ein paar Minuten eine Schwester, falls Sie etwas brauchen.«
»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte der Mann im Regenmantel und schlurfte mitten durch den Wirbel zweckgerichteter Bewegung und das damit einhergehende Chaos.
Mrs. Haupt lag im Koma. Diverse Schläuche führten in ihren Körper hinein und aus ihm heraus. Auf dem Nachtschrank neben dem Bett grinste ihn ihr Gebiss aus einem Wasserglas an. Der Mann mit dem Regenmantel und dem Tirolerhut wickelte das Papier um die Stängel der Blumen ab und stellte sie in das Glas mit den Zähnen der alten Frau. Dann spähte er auf den Korridor hinaus, sah niemanden und machte sich lautlos auf den Weg zu Zimmer 1123.
Es gab keine Wachen. Carl dämmerte in seinem schmerzmittelinduzierten Schlaf, als der Mann den Raum betrat. Sein Kopf war bandagiert, das Gesicht eine Ansammlung von Blutergüssen, die zu einem Brillenhämatom zusammenliefen. Durch seinen Kiefer zogen sich mehrere stabilisierende Drähte. Beide Beine lagen in Gips und wurden durch ein kompliziertes Konstrukt aus Spanndrähten, Gegengewichten und Metallrahmen fixiert. Carls rechter Arm war mit einem Klettband befestigt, seine Linke sogar auf ein Brett geklebt, damit die Infusion ungehindert fließen konnte. Eine Menge Schläuche komplettierten das Bild.
Der große Mann entfernte vorsichtig den Rufknopf für die Schwestern aus Carls Reichweite. Dann zog er eine mit Kappe versehene Spritze aus der Tasche seines Regenmantels und führte sie mit der rechten Hand, während er mit der anderen Carls verdrahteten Kiefer zusammenquetschte.
»Carl? Carl?« Die Stimme des Mannes klang sanft und beruhigend.
Carl grunzte und stöhnte, versuchte sich umzudrehen, wurde aber von der Batterie an Fixierungen und Schnüren daran gehindert, und öffnete ein Auge. Es war offensichtlich, dass er den Mann im Regenmantel nicht erkannte.
Der Fremde entfernte mit den Zähnen die Schutzkappe der Spritze und zog den Zylinder zurück, wodurch sich die Spritze mit Luft füllte. Mit einer nahtlosen Bewegung spuckte er die Kappe wieder aus und fing sie mit der Hand auf, in der er die Spritze hielt. »Bist du wach, Carl?«
Im noch funktionierenden Auge von Carl zeichnete sich benommene Verwirrung ab. Sie wich
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