Joe Kurtz 01 - Eiskalt erwischt
jähem Entsetzen, als er beobachtete, wie sein nächtlicher Besucher die Zuführung von der Infusionsflasche löste, den Alarm deaktivierte und die Spitze der Spritze in den Schlauch einführte. Carl versuchte, sich auf den Rufknopf zuzurollen. Der Fremde packte seinen Arm mit der Kanüle und hielt ihn fest.
»Die Farinos möchten dir für deine loyalen Dienste danken, Carl, und haben mich gebeten, dir zu sagen, dass es ihnen leidtut, dass du so ein Idiot warst.« Die Stimme des Mannes klang sanft. Er drückte die Nadel der Spritze tiefer in den Infusionskanal hinein.
Carl gab schreckliche Laute durch seinen verdrahteten Kiefer von sich und zappelte auf dem Bett hin und her wie ein riesiger Fisch.
»Sccchhhhh«, flüsterte der Mann besänftigend und drückte den Stempel bis zum Anschlag durch. Die Luftblase war in dem transparenten Schlauch gut zu erkennen, als sie sich auf Carls Unterarm zubewegte.
Mit einem geübten Handgriff setzte der Mann die Schutzkappe wieder auf die Spritze und ließ sie in seiner Manteltasche verschwinden. Wie er mit der Linken Carls Handgelenk festhielt und die Armbanduhr an seinem eigenen rechten Handgelenk beobachtete, musste jeder zufällig Vorbeikommende annehmen, dass hier ein Arzt noch eine späte Visite machte und den Puls des Patienten fühlte.
Carls gebrochener Kiefer knirschte hörbar und einer der Drähte riss tatsächlich. Die Geräusche, die er von sich gab, waren nicht mehr als menschliche Laute zu identifizieren.
»Noch vier oder fünf Sekunden«, sagte der Mann in dem Regenmantel sanft. »Da, jetzt ist es so weit.«
Die Luftblase traf auf Carls Herz und ließ es förmlich explodieren. Carl verkrampfte sich so heftig, dass zwei der stählernen Halteseile summten wie Hochspannungsleitungen bei starkem Wind. Die Augen des Bodyguards traten aus den Höhlen, bis sie zu platzen drohten, wurden dann aber von einer Sekunde zur nächsten blicklos und trüb. Blut strömte aus beiden Nasenlöchern.
Der Mann ließ Carls Handgelenk los, verließ den Raum, entfernte sich durch den kurzen Flur in entgegengesetzter Richtung vom Schwesternzimmer und verließ die Klinik über das hintere Treppenhaus durch den Keller und dann über die Einfahrt für die Krankenwagen.
Sophia Farino wartete draußen in ihrem schwarzen Porsche Boxster auf ihn. Das Verdeck war hochgeklappt, weil es immer noch regnete. Der große Mann glitt neben ihr auf den Beifahrersitz. Sie fragte nicht, wie es gelaufen war.
»Zum Flughafen?«
»Ja, bitte«, sagte der Mann im gleichen sanften, beruhigenden Tonfall, in dem er auch mit Carl gesprochen hatte.
Sie fuhren mehrere Minuten über die Kensington in östlicher Richtung. »Das Wetter in Buffalo macht mir immer wieder Spaß«, sagte der Mann und brach das Schweigen. »Es erinnert mich an Kopenhagen.«
Sophia lächelte und sagte: »Ach, das hätte ich beinahe vergessen.« Sie öffnete das kleine Handschuhfach und entnahm ihm einen dicken weißen Umschlag.
Der Mann ließ die Andeutung eines Lächelns aufblitzen und stopfte den Umschlag in die Tasche seines Regenmantels, ohne das Geld nachzuzählen. »Bitte richten Sie Ihrem Vater meine besten Grüße aus.«
»Das werde ich machen.«
»Und wenn es da noch etwas geben sollte, was ich für Ihre Familie tun kann ...«
Sophia blickte weg vom Klack-Klack der Scheibenwischer. Es waren nur noch wenige Meilen bis zum Flughafen. »Nun, es gäbe da tatsächlich eine Sache ...«
KAPITEL 11
Kurtz saß in dem winzigen Büro bei der Stadtverwaltung, sah über den chaotischen Schreibtisch seine Bewährungshelferin an und dachte, dass sie ein wirklich schnuckeliger Käfer war.
Seine Bewährungshelferin hieß Peg O’Toole. Eigentlich gehörten Formulierungen wie ›schnuckeliger Käfer‹ nicht zu seinem üblichen Wortschatz, aber genau das war Miss O’Toole. Vermutlich Anfang 30, aber ihr sommersprossiges Gesicht ließ sie jünger erscheinen. Sie hatte rotes Haar – nicht das verblüffende leuchtende Rot wie Sam, sondern einen dunkleren Kastanienton –, das ihr in Naturlocken bis auf die Schultern fiel. Nach heutigen Standards ein bisschen mollig, aber gerade das gefiel Kurtz an ihr. Der Schriftsteller Tom Wolfe hatte es auf den Punkt gebracht, als er New Yorks magersüchtige Partymäuschen als »gesellschaftliche Abziehbilder« beschrieb. Kurtz fragte sich beiläufig, wie Parole Officer Peg O’Toole wohl darauf reagieren würde, wenn er ihr erzählte, dass er Tom Wolfe las. Dann fragte sich Kurtz, ob mit ihm etwas
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