Joe Kurtz 02 - Bitterkalt
vor allem Bourbon auf Lager – ins Glas geschüttet wurde.
»Verdammter Schnee. Der Fußweg muss morgen früh wieder geräumt werden.« Er lallte ein wenig.
»Okay Dad.«
»Ich hab dieses Wochenende wieder ’ne Geschäftsreise. Komme Sonntag oder Montag zurück.«
In der kurzen Gesprächspause überlegte Kurtz, ob es in der Geschichte des US Postal Service überhaupt schon mal einen Mitarbeiter gegeben hatte, der am Wochenende auf Geschäftsreise fuhr.
Rachels Stimme. »Kann Melissa morgen Abend rüberkommen, um sich mit mir ein Video anzusehen?«
»Nein.«
»Kann ich dann bei ihr eins ansehen, wenn ich um neun wieder zu Hause bin?«
»Nein.« Der Schrank wurde wieder geöffnet und geschlossen.
Die Spülmaschine machte sich dröhnend an die Arbeit.
»Rach?« Kurtz wusste aus den abgehörten Telefonaten mit Melissa – ihrer einzigen wirklichen Freundin –, dass Rachel diesen Spitznamen hasste.
»Ja, Daddy?«
»Das ist ’n wirklich hübsches Teil, was du da anhast.«
Für kurze Zeit kamen die einzigen Geräusche von der Spülmaschine.
»Dieses Sweatshirt?«
»Ja. Sieht ... anders aus.«
»Das hast du mir doch letztes Jahr an den Niagarafällen gekauft.«
»Ja, na ja ... du siehst hübsch damit aus, das ist alles.«
Die Spülmaschine hörte auf, Wasser zu pumpen.
»Ich bringe den Müll raus«, brach Rachel das unangenehme Schweigen.
Es war jetzt ganz dunkel. Kurtz behielt den Kopfhörer auf den Ohren, als er um den Block fuhr und vor dem Haus abbremste. Er beobachtete das Mädchen bei den Mülltonnen. Sie trug ihr Haar jetzt länger und selbst im dämmrigen Licht der Terrassenlampe konnte er erkennen, dass es nun deutlich stärker an Sams Rotschopf erinnerte als im vergangenen Herbst, wo sie es noch um einiges kürzer getragen hatte. Rachel stopfte die Mülltüte in die Tonne und blieb einen Moment lang im Hof stehen, halb abgewandt von Kurtz und der Straße, das Gesicht dem fallenden Schnee entgegengereckt.
Kapitel 8
Zur selben Zeit feierte im Vorort Tonawanda, eine halbstündige Autofahrt von Lockport entfernt, James B. Hansen seinen 50. Geburtstag.
Hansen – aktuell stand Robert Gaines Millworth in seinem Ausweis, aber er trat auch unter Howard G. Lane, Stanley Steiner und einem halben Dutzend weiterer Namen in Erscheinung, von denen niemals zwei die gleichen Initialen aufwiesen – war umgeben von Freunden und Familie; allen voran seine Frau Donna, mit der er seit drei Jahren verheiratet war, sein Stiefsohn Jason und der achtjährige Irish Setter Dickson. Auf der langen Auffahrt seines modernen Eigenheims mit Blick auf den Ellicott Creek parkten die mittelmäßig teuren Sedans und Geländelimousinen seiner Freunde und Kollegen, die einem weiteren Schneesturm getrotzt hatten, um bei seiner sorgfältig geplanten Überraschungsparty dabei zu sein.
Hansen war in bester Stimmung. Erst vor anderthalb Wochen von einer längeren Geschäftsreise nach Miami zurückgekehrt, und alle beneideten ihn um seine nahtlose Bräune. Seit seiner Zeit als Psychologe an der Universität von Chicago hatte er fast 15 Kilo zugelegt, doch er war 1,90 Meter groß und das zusätzliche Gewicht entfiel fast ausschließlich auf Muskelmasse. Selbst sein Fett war gut in Form und verlieh ihm zusätzliche Durchschlagskraft, wenn es hart auf hart kam.
Jetzt spazierte Hansen zwischen seinen Gästen umher, hielt hier kurz an, um mit ein paar alten Kumpels zu plaudern, lachte dort über die unvermeidlichen Witze zum 50sten und klopfte überhaupt jedem auf die Schulter oder gab ihm die Hand. Gelegentlich musste Hansen daran denken, was er vor zwölf Tagen unter einem kleinen Hügel in den Everglades begraben und was seine Hand dabei berührt hatte, und er musste lächeln. James Hansen trat auf den modern designten Balkon aus Beton und Stahl oberhalb des Eingangsbereichs, wo er die kalte Nachtluft inhalierte, einige Schneeflocken wegblinzelte und an seiner Hand schnüffelte. Er wusste, dass da nach zwei Wochen kein Geruch nach Kalk und Blut mehr sein konnte, doch die Geste setzte eine Kette von Erinnerungen in Gang.
Als James B. Hansen zwölf Jahre alt gewesen war und noch unter seinem richtigen Namen, den er mittlerweile so gut wie verdrängt hatte, in Kearney, Nebraska, aufwuchs, sah er zum ersten Mal den Tony-Curtis-Film Ein charmanter Hochstapler . Der Streifen basierte auf einer wahren Begebenheit und erzählte die Geschichte eines Mannes, der von einem Beruf zum nächsten und von einer Identität zur anderen sprang –
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