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Joe Kurtz 02 - Bitterkalt

Joe Kurtz 02 - Bitterkalt

Titel: Joe Kurtz 02 - Bitterkalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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einmal gab er sich sogar als Arzt aus und rettete mit einer chirurgischen Operation ein Leben. In den folgenden 40 Jahren war die Idee in zahllosen Kino- und Fernsehfilmen und im sogenannten »Reality-TV« aufgewärmt worden, doch für den jungen James B. Hansen war der Originalfilm damals eine Offenbarung – vergleichbar mit der Erleuchtung, die Saulus auf dem Weg nach Damaskus aus den Latschen kippen ließ.
    Hansen hatte gleich am nächsten Tag damit begonnen, sich neu zu erfinden, und probierte seine Lügengeschichten zunächst an Freunden, Lehrern und seiner Mutter aus – sein Vater war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, kurz nachdem Hansen eingeschult wurde. Seine Mutter starb später während seines ersten Semesters an der Universität von Nebraska; innerhalb weniger Tage verließ er den Campus, zog nach Indianapolis und änderte seinen Namen und seine Vergangenheit. Es schien so einfach. Die eigene Identität ließ sich in den USA im Grunde genommen ungehindert manipulieren. Es war ein Kinderspiel, sich die notwendigen Geburtsurkunden, Führerscheine, Kreditkarten, College- und High-School-Diplome und ähnliche Dokumente zu beschaffen.
    Schon als Kind hatte James B. Hansen großen Spaß daran gefunden, Fliegen die Flügel auszureißen und kleine Kätzchen zu sezieren. Er wusste, dass das ein klares Anzeichen für eine soziopathische und psychotische Persönlichkeit war – er hatte immerhin zwei Jahre lang als Psychologieprofessor seinen Lebensunterhalt verdient und in seinen Kursen häufig über psychische Abnormitäten doziert –, doch das störte ihn nicht. Was die in der Konformitätszwangsjacke steckenden Kleingeister als Soziopathie bezeichneten, war, wie er wusste, nichts anderes als Befreiung – die Befreiung von sozialen Fesseln, die Millionen von Schwächlingen niemals zu sprengen wagten.
    Hansen wusste schon seit Langem von seiner geistigen Überlegenheit. Das einzig Gute an der High School in Nebraska war gewesen, dass man ihn dort einer ganzen Batterie von Intelligenztests unterzog, als man ihn auf mögliche emotionale Störungen und Lernprobleme hin abklopfte. Der Schulpsychologe hatte seiner Mutter damals erstaunt verkündet, dass Jimmy einen IQ von 168 besaß und damit eindeutig in der Liga eines Genies anzusiedeln war. Es handelte sich zugleich um den höchsten Wert, den er im Rahmen seiner Tests überhaupt nachweisen konnte.
    Für Jimmy kam das wenig überraschend, denn er hatte schon immer gewusst, dass er seinen Klassenkameraden und Lehrern intellektuell weit überlegen war (er hatte keine richtigen Freunde oder Spielgefährten). Das war keine Arroganz, sondern nüchterne Beobachtung. Der Schulpsychologe schlug vor, den jungen Hansen in ein Förderprogramm oder eine spezielle Schule für Hochbegabte zu stecken, aber natürlich gab es so etwas nicht im Nebraska der 60er-Jahre. Im Übrigen war in dieser Zeit auch Hansens Englischlehrerin durch einen Schulaufsatz des mittlerweile 16-Jährigen auf die morbide Vorliebe des Jungen für das Quälen von Hunden und Katzen aufmerksam geworden und Jimmy wäre beinahe von der Schule geflogen. Allein der Intervention seiner kränklichen Mutter und seinem eigenen beharrlichen Schweigen verdankte er, dass es nicht zum Äußersten kam.
    In diesem Aufsatz sagte Hansen zum letzten Mal in seinem Leben über etwas wirklich Wichtiges die Wahrheit. Schon in diesem zarten Alter war James B. Hansen zu einer fundamentalen Erkenntnis gelangt: Alle selbst ernannten Experten, großkotzigen Spezialisten und Professoren laberten im Grunde nur Scheiße. Der Großteil ihrer sogenannten Professionalität beschränkte sich auf unverständliche Ausführungen, effekthascherischen Jargon und den reichlichen Einsatz von spezialisiertem Vokabular. Mit ein wenig Grundlagenlektüre zum jeweiligen Fachgebiet, selbstbewusstem Auftreten und der richtigen Kleidung konnte jemand, der intelligent genug war, praktisch alles erreichen.
    In den vergangenen 32 Jahren seiner Befreiung von Wahrheit und aufgezwungener Identität hatte Hansen sich nie als Flugzeugpilot oder Neurochirurg ausgegeben, aber er vermutete, dass er auch das konnte, wenn er denn wollte. Im Laufe der Zeit hatte er seinen Lebensunterhalt unter anderem als Literaturprofessor, als Chefredakteur in einem großen Verlagshaus, als Bediener von schweren Baumaschinen, Nascar-Rennpilot und Psychiater auf der Park Avenue verdient. Außerdem als Psychologieprofessor, auf die Extraktion von Gift spezialisierter

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