Joe von der Milchstraße
Anstrengung – auf. »Ich werde Ihnen mal etwas erzählen«, sagte er. Er hatte ihre Sachen nun alle übereinandergestapelt und schleppte sie zu dem Wandschrank zurück. »Ich sitze also hier und höre mir, während ich auf Ihre Rückkehr warte, das Radioprogramm an. Sie spielen gerade Beethovens ›Neunte‹. Darauf folgt ein Reklamespot für ein Korsett. Dann bringen sie Ausschnitte aus Wagners ›Parsifal‹. Danach wird eine Salbe für Athletenfüße angepriesen. Es folgt ein Choral aus der Bachkantate ›Jesu, du meine Seele‹! Dann kommt eine Anzeige für ein sensationelles neues Medikament zur Behandlung von Hämorrhoiden. Danach Pergolesis ›Stabat Mater‹. Dann eine Anzeige für eine Zahnpasta für falsche Gebisse. Daraufhin spielen sie das ›Sanctus‹ aus Verdis ›Requiem‹. Dann eine Reklame für ein Abführmittel. Dann Haydns ›Gloria‹. Danach einen Spot für ein Mittel gegen Menstruationsbeschwerden. Dann einen Choral aus der ›Matthäus-Passion‹. Dann eine Anzeige für Katzensand. Dann –« seine Stimme brach ab. Er neigte den Kopf zur Seite, so als lausche er angestrengt.
Jetzt hörte auch Joe es. Mali, die neben ihm stand, schien es auch bemerkt zu haben; sie drehte sich um und lief dann mit raschen Schritten zur Eingangstür des Gebäudes. Dort angekommen kniff sie die Augen zusammen und schaute in die Dunkelheit hinaus.
Joe und Willis liefen hinter ihr her.
Ein riesiger Vogel schwebte am Nachthimmel. Um ihn herum zwei Reifen: einer aus Wasser und einer aus Feuer. Aus dem Mittelpunkt der Reifen schaute das Gesicht einer heranwachsenden Frau. Es war halbbedeckt von einem Paisley-Schal …, Glimmung in der Gestalt, in der er Joe zum erstenmal erschienen war, nur diesmal als riesiger Vogel. Ein Adler, dachte Joe. Laute Schreie ausstoßend schoß er auf sie zu, den Nachthimmel mit seinen breiten Schwingen durchpflügend. Joe zog sich ein Stück in den schützenden Eingang zurück. Der große Vogel schwebte noch immer auf sie zu, wobei sich die rechteckig zueinanderstehenden Reifen mit schrillem Geräusch drehten.
»Er ist’s, der alte Junge!« sagte Willis respektlos. Er schien sich durch das Erscheinen Glimmungs nicht beeindrucken zu lassen. »Ich bat ihn herzukommen. Oder bat er mich? Ich weiß es nicht mehr genau. Jedenfalls haben wir miteinander gesprochen. Ich bringe es nur in Gedanken schon wieder ein wenig durcheinander. Das ist so ein Problem bei meinen Kollegen und mir.«
»Er landet!« rief Mali.
Der Vogel blieb in der Luft stehen. Sein Schnabel schnappte in äußerster Erregung auf und zu; seine leuchtenden, gelben Augen starrten Joe an, nur Joe, niemanden sonst. Und dann erschallten aus dem riesigen Kropf des Vogels laut herausgeschriene Worte in die Dunkelheit der Nacht hinein. »Du!« schrie der Vogel Joe mit fürchterlichem Kreischen an. »Ich wollte nicht, daß du in den Ozean hinabtauchst. Ich wollte nicht, daß du siehst, was dort unten am Grunde des Meeres ruht! Ich habe dich hierhergeholt, damit du Töpfe reparierst! Was hast du dort unten gesehen? Was hast du dort unten gemacht? Antworte!« Die lauten Schreie des Vogels hatten etwas Irrsinniges an sich; etwas Herrisches. Joe konnte sich dem Zwang, der von Ihnen ausging, nicht widersetzen. Glimmung war hierher gekommen, weil er die Ungewißheit nicht länger ertragen konnte. Er wollte hier und jetzt wissen, was auf dem Grunde des Meeres geschehen war.
»Ich habe einen Topf gefunden«, sagte Joe.
»Der Topf lügt!« schrie Glimmung in rasender Wut. »Vergiß, was auf ihm stand! Höre statt dessen zu, was ich dir zu sagen habe!«
»Auf dem Topf stand nur –«
»Dort unten liegen Tausende von Töpfen!« unterbrach ihn Glimmung. »Jeder von ihnen hat ein anderes, erlogenes Märchen, das er dem erzählt, der zufällig vorbeikommt und ihn findet.«
»Auf dem Topf war ein großer schwarzer Fisch zu sehen«, sagte Joe.
»Es gibt keinen Fisch! Nichts dort unten ist real, außer Heldscalla. Ich kann sie jederzeit heben; ich könnte es allein tun, ohne daß du oder sonst jemand von euch mir hilft! Ich kann jeden Topf selbst heraufholen; ich kann ihn vom Korallenwuchs befreien, und wenn er zerbricht, kann ich ihn reparieren oder mir jemanden holen, der es kann. Soll ich dich zurückschicken in deinen Arbeitsraum, damit du wieder deine Zeit mit dem Spiel vertreiben kannst? Damit du im Laufe der Zeit verkommst, allmählich zu Schutt und Asche verfällst, ohne Gedanken, ohne Zukunft? Willst du das?«
»Nein«, sagte
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