JörgIsring-UnterMörd
schützen.
Stattdessen habe ich mich von meinen Rachegelüsten leiten lassen.«
»Sei nicht so ungerecht mit dir. Du bist doch gerade aus dem Grund nach
Deutschland gefahren, weil du glaubtest, den beiden damit helfen zu können. Du
hast gehofft, mit Edgars Tod ließe sich das alles aus der Welt schaffen. Und
mit deinem natürlich.«
Krauss winkte verächtlich ab. »Ich war egoistisch, sonst nichts. Mein Plan
war dilettantisch. Ich hätte es besser wissen müssen.«
Er ging zur Küchenzeile, griff sich den von Oda geöffneten Wein und trank
direkt aus der Flasche. Gierig ließ er den Alkohol in sich hineinlaufen,
fluchte in den Atempausen vor sich hin. Oda sah ihm eine Weile zu und wandte
sich dann ab. Keiner von beiden sprach ein Wort, aber die Stille zwischen ihnen
hatte ihren Charakter gewechselt. Statt sie auf geheimnisvolle Art miteinander
zu verbinden, schuf sie nun Distanz. Jeder hing seinen Gedanken nach. Krauss
setzte immer wieder die Flasche an, schnaufte, stöhnte, schluckte. Oda blickte
aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit. Die Lichtung war undurchdringlicher
Schwärze gewichen.
»So viele Möglichkeiten, wo Bensler hier Unterschlupf
suchen kann, gibt es nicht«, sagte Oda nach einer Weile. »Edgar wird Wind davon
bekommen haben, dass sein Mann in London ein eigenes Spiel spielt. Das heißt,
Bensler kann nicht auf ein Quartier der >Söhne Odins< zurückgreifen.
Meiner Meinung nach gibt es nur zwei Möglichkeiten.«
»Und die wären?« Krauss sah auf.
»Bensler hat sich mal an mich herangemacht, als ich
erst kurz bei den >Söhnen Odins< war. Das geile Schwein greift jeder
unter den Rock, die nicht schnell genug wegläuft. Mir hat er einmal seine
private Jagdhütte gezeigt, wollte mit mir dort ein Wochenende verbringen. Mit
Bärenfell vor dem Kamin. Ich habe ihm eine gescheuert, dass er zehn Minuten
Nasenbluten hatte. Die Hütte könnte der eine sichere Ort für ihn sein. Der
andere scheint mir allerdings noch plausibler.«
Krauss hatte sich neben sie gestellt. Die Flasche hielt er in der Hand. Sie
war fast leer.
»Göring hält Schein-Carinhall für ein perfektes Versteck. Nur wenige
wissen, dass er dort eine geheime Zentrale eingerichtet hat. Zudem lässt sich
das Gebäude seiner Ansicht nach gut überwachen. Ich wette darauf, dass Bensler
nach Schein-Carinhall kommen soll, um den Jungen zu übergeben.«
»Bensler ist ein feiges Schwein. Er wird versuchen, so schnell wie möglich
unter Görings Schutz zu kommen. Schein-Carinhall ist seine einzige Möglichkeit
zu überleben.«
»Also Schein-Carinhall.«
Krauss nahm einen Schluck. »Mit wie viel Männern müssen wir rechnen?«
»Göring wird die Sicherheitsstufe erhöhen. Normalerweise sind dort nur
wenige Männer stationiert, vielleicht drei oder vier. Jetzt werden es wohl an
die zwanzig sein. Darunter einige schwerbewaffnet.«
»Zu viele. Du vergisst, dass Bensler auch nicht
alleine kommt.«
Oda schaute Krauss offen an. Ihr Gesicht leuchtete vor Entschlossenheit.
»Wir haben einen großen Vorteil. Ich kenne Schein-Carinhall besser als du deine
gottverdammte Westentasche.«
23.
Wildpark Werder
30. August, Görings Sonderzug, kurz
vor Mitternacht
Göring betrachtete sich im Fenster seines Salonwagens. Es gefiel ihm, was
er dort sah. Die Uniform saß tadellos, betonte seine imposante Gestalt. Sein
Haar war akkurat nach hinten gekämmt, mit gerade noch tolerablen
Geheimratsecken. Seine Erscheinung strahlte Macht aus. Zufrieden zog er an der
österreichischen Zigarre und vernebelte sein Abbild mit dichten Schwaden
aromatischen Tabakqualms. Derart von sich selbst befreit, ging er zum kleinen
Beistelltisch, der neben seinem wuchtigen Sessel stand, und griff nach dem
viertelvollen Whiskyglas, das er sich vor ein paar Minuten eingegossen hatte.
Ein paar Sekunden lang spielte er mit dem Gedanken, das Getränk mit ein Paar Tropfen
Morphium zu veredeln, verwarf die Idee aber. Die Ereignisse spitzten sich zu
sehr zu, als dass er sich eine Auszeit hätte gönnen dürfen. Was wirklich schade
war. Schlafend wäre der Sermon des stocksteifen Schweden besser zu ertragen.
Dahlerus war bereits in Tempelhof gelandet und auf dem Weg zu Görings
Sonderzug. Der Feldmarschall rechnete damit, dass der Unterhändler ihm in
einer guten halben Stunde gegenübersaß. Zu diesem Zeitpunkt würde das Ultimatum
an die Polen abgelaufen sein. Göring ging davon aus, dass Hitler recht behalten
und kein polnischer Diplomat in der Reichskanzlei auftauchen würde. Das
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