JörgIsring-UnterMörd
hatte zwischen fünfzig und hundert
Meter Vorsprung und schien ihr Tempo noch zu erhöhen. Krauss atmete stoßweise.
Er war zwar erst Anfang dreißig und in guter Verfassung, aber er hatte schon
lange keinen Sport mehr getrieben. Trotzdem war er sicher, nah genug an sie
herankommen zu können, um einen sauberen Schuss zu landen.
Die Frau
erreichte eine Seitenstraße und bog ab. Krauss war nur Sekunden später an der
Ecke. Abrupt blieb er stehen. Die Straße, die er jetzt einsehen konnte, war
leer. Sein Opfer hatte sich in Luft aufgelöst. Er lief ein paar Schritte den
Bürgersteig entlang, schaute sich hektisch um. Nichts. Sie musste in ein Haus
verschwunden sein, aber in welches? Vielleicht besaß Benslers Team hier einen
weiteren Unterschlupf. Danach zu suchen, konnte er sich jetzt nicht leisten. Er
musste zurück in die Canal Street, sein Werk vollenden.
Krauss steckte
die Waffe weg und trabte in einer Geschwindigkeit zurück, die kein Aufsehen
erregte. Die Tür stand noch halb auf. Bevor er das Haus wieder betrat, zog er
erneut die Waffe. Mit der Walther im Anschlag stieg er über die Leichen und die
Treppe in den ersten Stock. Oben sicherte er erst wieder den Flur, dann stürzte
er ins Zimmer, in dem er Bensler zurückgelassen hatte.
Der Raum war leer. Nur eine Blutlache am Boden
erinnerte an das, was gerade hier geschehen war. Krauss fluchte. Er konnte sein
Pech nicht fassen. Bensler war ein zäher Brocken, er hatte ihn ausgetrickst.
Krauss rechnete nicht damit, ihn noch im Haus zu finden. Trotzdem sondierte er
das Schlafzimmer, die übrigen Räume im Erdgeschoss und den Keller. Mit der
Angst im Nacken, die Polizei könne jeden Moment vor der Tür stehen, blieb ihm
nur wenig Zeit für eine gründliche Inspektion. Bensler war genauso spurlos
verschwunden wie die Frau, die er verfolgt hatte. Krauss kochte vor Wut über
sich selbst. Er hatte es vermasselt. Und zwar gründlich.
3.
Bredstedt
7. August Zug nach Sylt, Mittag
Birger Dahlerus hing seinen Gedanken nach. Er saß im Zug nach Sylt, auf dem
Weg zu Hermann Göring. Dem Mann, auf dessen Schultern Dahlerus das Kartenhaus
seiner Hoffnung baute. Hätte er alleine im Abteil gesessen, hätte er vielleicht
leise geseufzt. So verkniff er sich derartige Gefühlsäußerungen. Seine Zweifel
aber ließen sich nicht einfach wegwischen, sie begleiteten jeden seiner
Schritte. Göring war ein unkalkulierbarer Kantonist, so viel stand fest. Aber
der Einzige, den er hatte. Der Gedanke, dem Deutschen nach Sylt nachzureisen,
war an diesem Morgen entstanden, geboren bei einem reichhaltigen Frühstück mit
seinen englischen Gästen. Wieder und wieder sprachen sie das Treffen mit Göring
vom Vortag durch, diskutierten jeden Vorschlag und stritten sich dämm, wie es
weitergehen müsse. Sie kamen zu dem Ergebnis, den vorangegangenen Tag als
vielversprechend zu bezeichnen, als den Anfang von etwas, was zu einem guten
Ende führen könnte. Charles Spencer, der wie immer das Wort führte, warnte vor
allzu großem Überschwang. Erst jetzt beginne der schwierige Teil, hartnäckiges
Verhandeln, langwierige Überzeugungsarbeit. Dahlerus wusste, wie recht er
hatte.
»Um Hitler
verbindliche Aussagen zu entlocken, brauchen wir eine erneute
Vier-Mächte-Konferenz«, hatte Spencer in die Runde gesagt, »ohne Frankreich und
Italien geht es nicht. Erst wenn alle an einem Tisch sitzen, wächst der Druck
auf Deutschland. Hitler muss klar werden, dass er sich mit einem Krieg gegen
Polen isoliert. Englands Entschlossenheit reicht alleine nicht aus. Eine
Vier-Mächte-Konferenz, ein zweites München, das ist es, was wir brauchen.«
Sie hatten den Vorschlag hin und her gewälzt, für gut befunden und wieder
verworfen, als undurchführbar erklärt und schließlich als einzig gangbaren Weg
bezeichnet. Dahlerus sollte so schnell wie möglich Göring unterrichten. Der
Deutsche lag mittlerweile am Strand von Sylt, entspannte sich ein paar Tage vom
Berliner Tollhaus, wie er den politischen Betrieb der Reichshauptstadt
spöttisch nannte. Bei seiner Abreise hatte Göring dem Schweden aber versichert,
er sei jederzeit für ihn zu sprechen; Dahlerus zögerte daher keine Sekunde,
zum Telefon zu greifen. Tatsächlich willigte der Reichsfeldmarschall sofort
ein, den Unterhändler zu treffen, er solle den nächsten Zug von Niebüll nach
Sylt nehmen, dort werde er ihn am Bahnhof abholen.
So fuhr Dahlerus unverhofft auf Deutschlands wichtigste Urlaubsinsel, im
Gepäck statt Badehose und Sonnenschirm
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