JörgIsring-UnterMörd
sich über unseren Köpfen ein
Unwetter zusammenbraut, das uns allen die Existenz zerhagelt. Statt tatenlos
zuzusehen, müssten wir jeden von diesen Deutschen am Kragen packen und sie
persönlich an den Verhandlungstisch setzen.«
»Du weißt genauso
gut wie ich, dass das Quatsch ist, Birger. Du musst dich einfach damit
abfinden, dass du nur ein kleines Rädchen in einem gigantischen Getriebe bist.
Außerdem ist es noch gar nicht gesagt, dass alles zu spät ist. Solche Dinge
brauchen ihre Zeit. Göring wird sich schon bei dir melden.«
»Ja, um mir zu sagen, wie leid es ihm tut. Dass es morgen losgeht und wir
besser mal die Köpfe einziehen.«
In solchen Momenten stand Dahlerus meist auf und verließ aufgewühlt den
Raum. Irgendwie steuerte fast jede Unterhaltung mit seiner Frau auf dieses
Thema zu, und immer wieder landeten sie an demselben Punkt, tauschten ähnliche
Argumente aus. Der Schwede drehte sich im Kreis, und niemand konnte ihn da herausziehen
- außer Göring.
Erschwerend kam hinzu, dass sich die Ereignisse plötzlich beschleunigten,
mit deutlicher Tendenz in Richtung Katastrophe. Erst erzählte Spencer am
Telefon, dass sich sozusagen das gesamte englische Kabinett in die Ferien
verabschiedet habe, was sich für Dahlerus verdächtig nach Fahnenflucht anhörte.
Dann meldeten die Medien, dass Deutschland und Russland sowohl einen
Handelsvertrag als auch einen Nichtangriffspakt geschlossen hatten. Dem
Schweden war sofort klar, dass Hitler sich damit den Weg nach Polen
freigeräumt hatte - weil die Gefahr, in einem Zwei-Fronten-Krieg zerrieben zu
werden, nicht mehr existierte.
Als Dahlerus die Nachricht beim Frühstück las, zerknüllte er wütend die
Zeitung und schleuderte sie quer durch den Raum. Elisabeth, die solche
Ausbrüche von ihrem Ehemann nicht kannte, starrte ihn entgeistert an.
»Entschuldige bitte«, sagte Dahlerus und rannte aus dem Zimmer. Im Flur
zog er sich die Schuhe an, nahm eine leichte Jacke vom Haken und verließ das
Haus.
Direkt hinter ihrem Grundstück am Stadtrand von Stockholm begann ein
ausgedehntes Waldstück, in dem Dahlerus und seine Frau gerne lange Spaziergänge
unternahmen. Jetzt hatte der Schwede das dringende Bedürfnis, alleine
loszulaufen, um die Dinge in Ruhe zu durchdenken. Aber es wollte ihm nicht
gelingen, seine Erinnerungen zu verdrängen. Es waren die Bilder des letzten
großen Krieges, die er so tief wie möglich in seinem Gedächtnis vergraben
hatte und die doch nie zu vergessen waren. Meist hielt er sie in Schach,
kontrollierte ihre zersetzende Kraft, doch heute überrollten sie ihn wie ein
unter Volldampf fahrender Expresszug. Eindrücke von unendlichem Leid, von
Zerstörung und Entbehrung. Als junger Mann hatte Dahlerus während des Kriegs
zwei Jahre in Deutschland gearbeitet und dort die Hungersnot im schlimmen
Winter 1916/17 am eigenen Leib zu spüren bekommen. Viel schwerer aber wog das
Elend der Menschen, das er mit ansehen musste, das stille Leiden der Kinder,
die apathischen Blicke der Mütter, der herzzerreißende Schmerz und die
verzweifelten Versuche, in all dem Chaos die Würde zu bewahren. Er hatte
gehofft, dies nie mehr erleben zu müssen, doch jetzt schien es wieder so
unausweichlich heraufzuziehen wie der nächste Herbststurm. Dahlerus fühlte
sich winzig, hilflos, archaischen Urgewalten ausgeliefert. Dabei hatte er sich
geschworen, alles zu tun, um ein neuerliches Morden zu verhindern.
Offensichtlich war das nicht genug.
Der Spaziergang brachte den Schweden nicht weiter, ja, er hatte sogar den
Eindruck, mit jedem Schritt tiefer in einen Abgrund hinabzusteigen, aus dem ihn
am Ende kein Weg mehr herausführen würde. So kehrte er zurück ins Haus, die
Seele vergiftet, das Herz bleischwer. Wenige Sekunden, nachdem die Tür ins
Schloss gefallen war, stand Elisabeth vor ihm. Dahlerus sah seine Frau fragend
an.
»Göring hat angerufen. Er will es gleich noch mal
versuchen.«
Dahlerus ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Was hatte das zu bedeuten?
Egal, endlich bewegte sich etwas. Das Telefon schrillte. Nach dem ersten Ton
hatte der Schwede abgenommen.
»Birger Dahlerus.«
»Mein lieber
Dahlerus, seien Sie gegrüßt. Hier geht es gerade drunter und drüber. Ich
brauche Sie in Berlin. Wann können Sie kommen?«
»Ist Ihnen morgen früh genug, Herr Göring?«
»Bestens. Steigen
Sie im Esplanade ab, ich lasse Sie abholen. Und grüßen Sie mir Ihre reizende
Frau. Bis morgen.«
Dahlerus legte den Hörer auf die Gabel. Elisabeth hatte sich neben
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