JörgIsring-UnterMörd
dich mal ansehen. Schmal bist du geworden, vor allem im Gesicht. Aber
die Augen. Unverkennbar.« Maybaum schüttelte den Kopf. »Dass ich dich je
wiedersehen würde, hätte ich nie gedacht. Und auch noch in Berlin. Was führt
dich zu mir? Etwas Gutes bestimmt nicht, das ahne ich schon. Lass uns nach
hinten gehen! Da sind wir ungestört. Ich schließe nur den Laden ab.«
Maybaum
verriegelte hastig die Eingangstür und hängte ein »Geschlossen«-Schild hinter
die Scheibe. Er legte Krauss einen Arm auf die Schulter und leitete ihn an der
Theke vorbei durch die Tür mit dem Vorhang in den dahinter liegenden Raum. Er
war zweckmäßig eingerichtet, mit einem alten Eichenholztisch und drei Stühlen,
einer kleinen Küchenzeile, einigen Schränken und Regalen an den Wänden. Neben
allerlei Dosen, Gläsern und schmutzigem Geschirr hatten sich selbst hierhin ein
paar Hüte verirrt. Ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Tisch, daneben dampfte
eine Tasse mit Kaffee. Krauss nickte in Richtung Tasse.
»Einen Kaffee könnte ich jetzt auch gebrauchen.«
»Den sollst du haben. Nimm Platz, Richard.«
Krauss zog einen Stuhl heran und setzte sich. Er warf einen Blick auf das
aufgeschlagene Buch, klappte es kurz zusammen, um Titel und Autor lesen zu
können.
»Erich Maria Remarque, >Im Westen nichts Neues<. Verfemte Literatur.
Du hast dich nicht geändert, Leo.«
Maybaum verlieh seiner Stimme einen übertrieben pathetischen Tonfall.
»Gegen literarischen Verrat am Soldaten des Weltkriegs, für Erziehung des
Volkes im Geiste der Wehrhaftigkeit! Ich habe die geistlosen Sprüche nicht
vergessen, mit denen sie die Werke unserer besten Dichter den Flammen übergeben
haben. Zum Glück überdauert wahre Größe solch kleingeistigen Wahnwitz. Ich
dachte, es kann nicht schaden, mal wieder Remarque zu lesen. Um sich das vor
Augen zu führen, was uns bevorsteht. Mit anderen Worten: Ich habe mich nicht
geändert.«
Krauss entspannte sich. Wegen Menschen wie Maybaum lohnte sich das alles,
dachte er. Der Hutmacher setzte sich ihm gegenüber an den Tisch, reichte ihm
den versprochenen Becher Kaffee. Krauss nahm einen Schluck. Er sprach als
Erster in die Stille, die sich nach Maybaums letzten Worten ausgebreitet hatte.
»Wie hast du es nur geschafft zu überleben?«
Jetzt lächelte auch Maybaum. »Dasselbe wollte ich dich gerade fragen.«
Krauss sah dem Älteren in die Augen und meinte darin
eine Traurigkeit zu erkennen, die nicht zu dem Wesen des listigen Hutmachers
passte, so wie er ihn kannte. Aber was wusste er schon von den Jahren, die
vergangen waren?
»Jede Menge Glück. Und gute Menschen.«
»Offiziell giltst du seit damals als tot. Ihr alle drei. Hanna, du und der
Junge. Ich habe Edgar nach dir gefragt, aber er hat geantwortet, dein Name
würde nicht mehr existieren. Sollte ich ihn noch einmal in den Mund nehmen,
wären das meine letzten Worte. Daraufhin habe ich selbst Ermittlungen
angestellt. Wie du weißt, habe ich meine Kanäle.«
»Ich weiß. Was hast du herausbekommen?«
»Dass die Chance
besteht, dass du und der Junge leben.« Maybaum blickte abwesend in seine Tasse.
»Dass es Hanna nicht geschafft hat.«
»Edgar hat sie
umgebracht. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
»Das muss furchtbar gewesen sein.«
»Es war so, als würde Edgar mich selbst erschießen. An diesem Tag bin ich
gestorben, zusammen mit Hanna. Derjenige, der hier vor dir sitzt, ist nicht
mehr der Mann, den du kennst. Auch Edgar ist an diesem Tag gestorben, er weiß
es nur noch nicht.«
»Sie nennen ihn mittlerweile . Er ist gnadenlos. Wer
in seine Hände gerät, ist verloren. Die Söhne Odins sind gefürchteter denn je.
Sie machen sich gar nicht mehr die Mühe, ihre Taten zu verschleiern, so wie die
übrige Gestapo. Ich weiß nicht, wie viele ungeklärte Morde auf ihr Konto
gehen.«
»Edgar wird dafür bezahlen.«
»Was soll das
ändern? Am nächsten Tag sitzt ein neuer Mann auf Edgars Stuhl, und das Morden
geht weiter. Du wirst niemanden damit retten, wenn du vorhast, Edgar zu
töten.«
»Das stimmt nicht. Ich rette den Jungen.« Krauss sah auf die Tischplatte.
»Und mich.« Er seufzte. »Aber wahrscheinlich hast du recht. Wenn man es aus
übergeordneter Perspektive betrachtet, wird sich nichts ändern.«
Maybaum taxierte ihn lange. »Dem Jungen geht es also gut? Wo hast du ihn
untergebracht?«
»Er ist in guten Händen. Wenigstens das habe ich noch
hingekriegt. Er weiß nichts von dem, was vorgefallen ist, nichts von
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