JörgIsring-UnterMörd
Wort war gefallen zwischen ihm und Edgar auf der Fahrt
von Maybaums Laden zu »Auerbachs Keller«. Erst als sie die Hauseinfahrt an der
Worringer Straße erreicht hatten und der Wagen hielt, hatte sein Bruder das
Wort an ihn gerichtet.
»>Auerbachs Keller< kennst du ja bereits.«
Krauss legte so viel Hohn wie möglich in seine Stimme. »Ein Standort, den
du vielleicht besser aufgegeben hättest. Zu unsicher.«
»Wie du siehst, habe ich das Problem erkannt.« Edgar wies mit einer
lässigen Armbewegung auf die vier Männer, die im Hausdurchgang warteten. »So etwas
passiert mir nur einmal.«
Danach hatte Edgar ihn in den Keller hinabführen und festbinden lassen.
Seitdem war niemand mehr aufgetaucht. Krauss vermutete, dass es um
Mitternacht war. Die Dinge entwickelten sich zu schnell. Schneller, als er es
je für möglich gehalten hätte. Und leider ausgesprochen ungemütlich.
Gerade mal einen Tag hatte er gebraucht, um knietief in der Scheiße zu
stecken. Das war Maßarbeit. Seine Chancen standen schlecht. Edgar würde nicht
so dumm sein und sich eine Blöße geben. Im Moment hoffte Krauss nur, dass sie
bei der Folter so weit gehen mussten, dass er starb, ohne etwas über Philipps
Aufenthaltsort zu verraten. Philipp, der eigentlich Adolf jr. hieß und Hitlers
einziger Sohn war.
Krauss konnte nicht weiter über eine Strategie nachdenken, weil die Tür
geöffnet wurde. Edgar betrat den Raum, gefolgt von einer blonden, sportlich
wirkenden Frau, die Krauss nicht kannte, und Franz Grünberg, seiner rechten
Hand. Grünberg, ein pausbäckiger Typ mit fassförmigem Oberkörper, und die Frau
bauten sich vor der Wand auf, die Krauss gegenüber lag. Edgar schleifte einen
Stuhl hinter sich her und platzierte ihn direkt vor seinem Bruder. Ohne sich zu
seinen Begleitern umzudrehen, setzte er sich hin und schlug die Beine
übereinander. Seine Stimme klang weich.
»Lang, lang ist's her.«
»Nicht lange genug.«
»Die Freude ist
ganz auf meiner Seite. Wenn ich mich recht erinnere, bist du derjenige, der
mir einen Besuch abstatten wollte. Jetzt, wo wir uns gefunden haben, hast du
schon wieder was zu meckern. So kenne ich dich, Bruderherz.«
»Den Bruderherz-Quatsch kannst du dir sparen.«
Edgar riss in
gespielter Überraschung die Augen auf. »Aber du bist doch mein Bruder, oder
irre ich mich etwa? Mein kleiner Bruder Richard, der so versessen darauf war,
alles mit seinem großen Bruder Edgar zu teilen. Der ihm lebenslange Treue
geschworen hat und den Grundstein legen wollte für eine neue deutsche Rasse.
Der Richard bist du doch? Oder nur noch der, der seine Ideale verraten hat für
eine Frau? Der uns das Kind genommen hat, das unsere Zukunft sein sollte. Ich
vermute ja, du bist Letzteres. Aber wie du es auch drehst und wendest, du bist
und bleibst mein Bruder.«
»Das ist die Bürde, die ich tragen muss. Wenn ich könnte, würde ich es
ungeschehen machen.«
Krauss sah seinen
Bruder angewidert an. Aus der Nähe war Edgars Haut fahl, unter seinen Augen
saßen schwarze Ringe. Selbst die blonden Haare wirkten farblos. Krauss hatte
den Eindruck, einem übernächtigten Albino gegenüberzusitzen. Der Kampf für
Hitlers Herrenrasse saugte Edgar das Mark aus den Knochen.
»Deshalb bist du doch hier, habe ich recht? Um einen Fehler der Natur zu
korrigieren. Und um eine große Sünde zu begehen. Ich sehe es schon auf deiner
Stirn, das Kainsmal. Warum solltest du sonst deine Deckung verlassen? Aber soll
ich dir mal was sagen: Das war eine saudumme Idee.«
»Einen Versuch war's wert.«
Edgar schüttelte den Kopf. »Richard, Richard, mein ungestümer Bruder. Du
hast dich immer leicht zu unüberlegten Dingen verleiten lassen. Meistens konnte
ich dich auf den richtigen Weg zurückbringen. Vielleicht klappt's ja auch
dieses Mal.«
»Auf den richtigen Weg? Welcher sollte das deiner Meinung nach sein?
Derjenige, der direkt in den Abgrund führt? Du bist so ein überhebliches
Arschloch, Edgar. Du könntest nicht einmal einen Blinden führen. Dein
sogenannter richtiger Weg ist eine
Einbahnstraße. Oder kennst du jemanden, der aus der Hölle zurückgekommen
ist?«
Krauss bemerkte, wie sich Edgars Gesichtszüge verhärteten. Im Kunstlicht
des Kellers erschien ihm sein blasser Bruder gespenstisch, und er erinnerte
sich daran, wie grausam Edgar sein konnte. Ihn fröstelte. Edgars Worte tropften
kalt in »Auerbachs Keller«.
»Offensichtlich bist du im Besitz der einzigen Wahrheit. Vielleicht kannst
du mich daran teilhaben lassen. Und mir
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