JörgIsring-UnterMörd
den großen Fenstern der Reichskanzlei dämmerte es
bereits. Er hörte Vögel zwitschern. Fast die gesamte Nacht hatte er mit Hitler
und Göring verbracht. Eine Nacht in einer anderen Welt, in der er - das war ihm
klar geworden - eigentlich nichts zu suchen hatte. Weil es ihn krank machte.
Stattdessen sollte er bei Elisabeth sein, den August in Schweden, die Wärme
genießen, bevor der Winter das Land überrollte. Er spürte schon, wie die Kälte
ihm langsam die Glieder heraufkroch.
»Wie komme ich zurück nach England?«
»Für Ihre Abreise ist gesorgt. In Tempelhof wartet ein Flugzeug auf Sie.
Abflug um acht Uhr. Wir haben alle Überflugrechte.«
»Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.«
Göring legte Dahlerus eine Hand auf die Schulter. »Sarkasmus steht Ihnen
nicht, mein lieber Dahlerus. Von Ihrer Mission hängt viel ab, sehr viel, das
wissen Sie genauso gut wie ich. Lassen Sie sich nicht von Eindrücken beirren,
die Sie nicht richtig einordnen können. Geben Sie einfach Ihr Bestes, so wie
Sie es bisher getan haben. Sie haben einen starken Mann im Hintergrund, denken
Sie daran.« Göring verstärkte den Druck seiner Hand. »Und einen dicken dazu.«
Der Feldmarschall lachte über seinen Witz.
Dahlerus verzog keine Miene.
Göring zwinkerte ihm zu. »Überzeugen Sie die Engländer! Und werfen Sie die
Karte nicht weg. Die ist vielleicht einmal viel wert.«
Wieder lachte
Göring und winkte einen Adjutanten herbei, der am Ausgang des Saals gewartet
hatte. Dahlerus verabschiedete sich förmlich und folgte dem Mann hinaus aus der
Reichskanzlei. Draußen wartete ein Wagen, der ihn zurück ins Hotel brachte. Der
Schwede nahm ein kurzes Frühstück, packte seine Sachen und ließ sich nach
Tempelhof fahren.
Nur zwanzig
Stunden, nachdem er in Berlin gelandet war, befand er sich schon wieder auf dem
Weg nach London. Es war ein herrlicher Spätsommertag, die Sonne tauchte die
Landschaft in warmes Licht. Aber Dahlerus bekam das Bild Hitlers nicht aus dem
Kopf. Er sah ihn vor sich, wie er geiferte und spuckte, wie er seinen grenzenlosen
Hass hinaus in die Welt schrie. Ob ein Frieden mit diesem verbohrten Menschen
überhaupt möglich war? Er bezweifelte es.
War er doch nicht einmal in der Lage zu sagen, ob Hitlers Worte der
Wahrheit entsprachen. Wie sollte er damit umgehen? Gab es überhaupt eine
Alternative zu Verhandlungen? Für die Menschen in Europa zählte nur eine
Wahrheit: Krieg oder Frieden. Dahlerus war wie betäubt. Er schloss die Augen.
Und ertappte sich bei einem Gedanken, der eigentlich nicht seiner Natur
entsprach. Er wünschte sich, Hitler wäre tot.
11.
Berlin
27. August Auerbachs Keller,
früher Morgen
Wenn er die Augen schloss, sah Krauss Maybaums flehenden Gesichtsausdruck.
Hatte der Hutmacher wirklich geglaubt, dass Edgar ihn verschonen würde?
Verzweifelte Menschen klammerten sich oft an etwas, das sie unter anderen
Umständen nicht einmal erwogen hätten. Vielleicht verschonte Edgar wenigstens
Maybaums Familie. Krauss blieb, wollte er sich vom Schicksal seines alten
Freundes ablenken, nichts anderes übrig, als die Augen offen zu halten.
Allerdings stimmte ihn der Ausblick auch nicht gerade fröhlich. Er befand sich
in einem fast kahlen Raum. Ihm gegenüber lag eine geschlossene Tür, neben ihm,
außer Reichweite, stand ein Rolltisch. Auf dem Fußboden und an zwei Wänden
zeugten große Flecken von nur notdürftig weggeputzten Blutlachen.
Krauss saß in »Auerbachs Keller«, in dem Raum, in dem er vor weniger als
zehn Stunden drei Leichen zurückgelassen hatte. Die Toten waren verschwunden,
stattdessen hatte Edgar seinen Bruder nackt auf dem Stuhl festschnallen
lassen, auf dem seine Männer vor kurzem noch Kaltenbrunner gefoltert hatten.
Ironie des Schicksals nannte man das wohl, dachte Krauss. Sie hatten ihn
allein gelassen, wohlwissend, dass er sich nicht aus eigener Kraft befreien
konnte. Arme und Beine waren mit breiten Lederriemen festgezurrt, der
Spielraum für Hände und Füße gleich null. Aber ohne Waffen wäre er sowieso
nicht weit gekommen. Edgar hatte überall Männer postiert, sowohl im Durchgang
als auch im Keller. Bei seiner Ankunft am späten Abend hatte Krauss einige von
ihnen wiedererkannt. Ihre hasserfüllten Blicke sprachen für sich. Nach dem, was
am Nachmittag geschehen war, wünschten ihm alle den Tod. Bei ihm hätte jeder
gerne den Folterknecht gespielt. Edgar konnte sich den gemeinsten aussuchen.
Wahrscheinlich fiel seine Wahl auf sich selbst.
Krauss grunzte. Kein
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