Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
Kate Assperg, bei dem Holtrop zum ersten Mal seit vielen Monaten wirklich hatte dabei sein wollen, war er durch den Verkehrsunfall auf der Autobahn hinter Hamburg und den davon verursachten mehrstündigen Großstau in halb Zentralniedersachsen, der auch auf allen Landstraßen zwischen Lüneburger Heide, Teufelsmoor und Dümmer den Verkehr praktisch zum Erliegen gebracht hatte, so spät gekommen, dass überhaupt niemand mehr da war. Kein einziger Wagen parkte noch vor der Schlossauffahrt, als Terek nach einem wilden Ritt die kleinen Straßen vom Bokersee hoch um zwölf nach dreiUhr in Redecke angekommen war und sich mit einer fassungslosen Enttäuschung im Gesicht zu Holtrop umgedreht hatte. »Zu spät«, sagte Holtrop, »verdammt nochmal.« »Es tut mir leid, schneller gings nicht.« »Ich weiß.« Holtrop hatte einen Moment überlegt, trotzdem hineinzugehen und Kate Assperg seine Herzlichkeitsoffensive wie geplant, nur eben jetzt privatim direkt ins Gesicht zu spucken. Aber ohne Zuschauer gab es keine Kate Assperg, ohne Zuschauer war sie nicht etwa ein etwas veränderter Mensch, ohne Zuschauer war Kate Assperg inexistent. Es war sinnlos, jetzt mit ihr zu reden, und Holtrop, der einem Impuls folgend ausgestiegen war, um dennoch hineinzugehen und per lebende Aktion sein Veto gegen diesen Schwachsinn im Reich Assperg ein für alle Mal einzulegen und so wenigstens zuletzt gegen all das nocheinmal aktiv, egal wie sinnlos, zu protestieren usw, hatte sich umgedreht und nur »nein!« gedacht und leise »nein!« gesagt, war wieder eingestiegen, und dann war Terek langsam wieder losgefahren.
Kurz hinter der verschlammten Senke vor Bokel gab es einen in den Wald abzweigenden Forstweg, dort sah Holtrop im Vorbeifahren den Wagen seiner Frau, dunkel vor dunklem Hintergrund, stehen, und seitlich in der Tiefe hatte man noch einen zweiten Wagen zwischen den Ästen hell hervorblitzen gesehen. Aber vielleicht war das auch eine Augentäuschung. »Moment mal«, sagte Holtrop, »war das nicht eben der Wagen meiner Frau?« »Wo meinten Sie?« »Da hinten, bei dem Weg!« »Habe ich selbst jetzt nichts gesehen«, sagte Terek und verlangsamte die Fahrt. »Soll ich zurücksetzen?«, fragte Terek, blieb stehen, und Holtrop drehte sich nach hinten um und schaute durch das Rückfenster. »Ich weiß nicht, nein. Das heißt, zur Sicherheit, fahren Sie die paar Meter doch zurück.« Tatsächlich war es dann eines dieser Brandbilder, die Holtrop zu sehenund, durch seine hochgespannte Erregung extrem herausvergrößert und zu Ultrazeitlupe verlangsamt, in sein Gedächtnis eingebrannt bekam: links stand Salgers Wagen, leer, rechts der Wagen von Pia Holtrop, und man sah, wie die Köpfe der zwei in diesem Auto sitzenden Menschen, die im ersten Augenblick in der Mitte sehr nahe beieinander gewesen waren, gerade wieder auseinandergingen.
»Alles okay«, sagte Holtrop zu Terek, »fahren Sie weiter.« Den restlichen Weg nach Schönhausen war Holtrop in Gedanken hochkonzentriert mit der für morgen von ihm geplanten Pressekonferenz zu den Konzernsicherheitsfragen befasst, während im Hintergrund das Heer aller Holtrops, die je Liebe empfunden hatten, mit den Beseitigungsarbeiten an den vom Brandbild verursachten Zerstörungen beschäftigt war. Im Büro kam Dirlmeier im Gestus der Dringlichkeit auf Holtrop zu. »Moment!« sagte Holtrop und hielt Dirlmeier seine Handflächen offen entgegen, um ihn zu stopen, »drei Minuten!«, und Dirlmeier ging hinaus. Ohne Holtrops willentliches Zutun wurde von Holtrop automatisch die Mobilfunknummer von Pia Holtrop angewählt, die Mailbox, die sich meldete, dann aber nicht besprochen. Dann kamen Riethuys und Flath zusammen mit Dirlmeier zu Holtrop ins Zimmer, und alle äußerten sich zu Holtrops Idee mit der Pressekonferenz am morgigen Sonntag sehr reserviert. Die meiste Zeit ging die Debatte, die von Riethuys und Flath fast beleidigend desinteressiert und schlaff geführt wurde, um die Frage, ob eine solche Pressekonferenz als befreiende Offensivaktion oder umgekehrt als Zeichen von Panik aufgefasst werden würde. »Wir sollten den Fall weniger hoch hängen«, meinte Flath, und Holtrop schrie jetzt fast: »Aber der Fall hängt da oben, hier!« und zeigte wütend zur allerdings auch hier nicht so sehr hoch hängenden Decke seines Büros hoch. Das kurze Schweigen, das jetzt folgte, die Stille, in der nichts gesagt wurde und nichts geschah, versetzte Holtrop, das wussten alle, und Dirlmeier, der sich als einziger wirklich
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