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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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ist der Geist vom Leben dauernd so sehr, fast unmenschlich, möchte man sagen, überfordert. Holtrop, bei dem diese Existenzfaktizitäten nur besonders deutlich ausgeprägt waren, war insofern auch in diesem Moment an seinem morgendlichen Schreibtisch nur ein kleines Beispiel allgemeiner Art für Grundbedingungen der Arbeitswelt Büro, egal ob oben oder unten. Frau Rösler erschien, brachte Kaffee und Unterschriftenmappe mit, wie immer, nur dass Holtrop heute endlich einmal die von Frau Rösler für ihn dabei auch mitgebrachte Freundlichkeit so auffassen konnte, wie sie von ihr gemeint war, hintergedankenlos freundlich. »Guten Morgen, Herr Dr. Holtrop!« »Guten Morgen, Frau Rösler.« Holtrop schaute auf, sie schaute zurück, nickte und ging hinaus.
    Holtrop hatte sich den Brossebrief, mit dem Brosse Holtrop endgültig den Krieg erklärt hatte, herausgenommen und verfasste jetzt ein an den alten Assperg gerichtetes Schreiben, das in aufgeräumter Stimmung, aber auch holtropisch spirited, den Fall und die Lage, den Streit, mögliche Lösungswege, Alternativen, Perspektiven und Konsequenzen ganz ruhig darlegte, ein Testament, das sich sehen lassen konnte, wie Holtrop beim mehrmaligen Durchlesen der handgeschrieben neun Seiten dachte. Nachdem dieser Brief per Hausbote nach drüben in den Stiftungsvorstand gebracht und dem alten Assperg übergeben worden war, passierte lange nichts. Stündlich rechnete Holtrop mit einem Anruf von drüben. Es kam aber kein Anruf. Der alte Assperg rührte sich nicht, den ganzen Tag nicht. Auch am nächsten Tag und die ganze nächste Woche: dröhnendes Schweigen, über den Tümpel hin aus der Stiftung in das Office of the Chairman hinübergeschickt. Wie jeder Mächtige kannte der alte Assperg die Gewalt des Schweigens, und Holtrop wusste natürlich, was ihm da mitgeteilt wurde: du wirst zertreten. Holtrop war Ungeziefer geworden in der Welt des alten Assperg. Und der alte Assperg, dessen ganze Firmenphilosophie von nichts anderem als von Menschlichkeit handelte, war im Fall der von ihm gewählten Optionen, die Firma zu führen, so asozial und unmenschlich, wie es sein leicht schizoid abgetöntes Naturell hergab, ziemlich unmenschlich und sehr asozial. Holtrop wartete. Er machte seine Arbeit weiter, hatte sogar wieder Spaß daran wie lange nicht mehr, bis Ende Juni, Anfang Juli ging das gut, zwischendurch beförderte Holtrop den Plan Freiheit, wie Mack die Exitstrategie genannt hatte, traf Mack und unterschrieb viele Papiere, das private Vermögen betreffend, und der beste Arbeitsrechtler der Republik, den ausgerechnet Binz ihm empfohlen hatte, Prof. Gauweiler, von der Münchner Kanzlei Bub, Gauweiler & Partner, hatte sich Holtrops Falls angenommen, auch das war Teil der Exitstrategie, auf mögliche Eventualitäten ordentlich vorbereitet zu sein. Wie in den Monaten davor war Holtrop wenig auf Reisen, arbeitete lange und späte Stunden im Büro, und gar nicht so selten war es tatsächlich er selbst, der als allerletzter die Hauptverwaltung verließ und aus dem Haus nach draußen trat, die Luft der Sommernacht einatmete und sich von schwermütigen Gefühlen erfüllt nach Hause fahren ließ.
    Der Sommer war heiß und die Nächte kurz. Holtrop hatte nichteinmal Akten mitgenommen, es war halb zwölf, am Wagen stand wieder der Ersatzfahrer Zuber und wollte ihm die Aktentasche abnehmen. »Gar nichts dabei heute?« sagte Zuber und machte die Türe auf. »Nein.« »Ist auch schon spät.« »Da haben Sie recht.« Holtrop warf sein Jackett ins Auto und setzte sich hinein. Er lehnte sich zurück. Glück und Wohlwollen war der Name der perfekt gemachten Sitze, der Polster, der gesamten Atmosphäre des Autoinnenraums, Mercedes Benz, gepriesen sei der Name dieser Firma. Zuber startete den Motor, das Licht ging aus, und dann schwebte das tiefblau umhüllte Innere der Fahrgastzelle durch die Nacht, vom Industrievorort Reudnitz im Osten über den hell erleuchteten Stadtzubringer, die Laternen waren eine Spende der Asspergstiftung an die Stadt, auf Großschönhausen zu. »Zu leben ist manchmal nichts als Tapferkeit«, stand auf einer Werbetafel, die ein Parfum annoncierte, mitten in den Vorstadtbrachen, daneben die riesige Rotsponraffinerie, hell angestrahlte Flachbauten, von einem hohen, ebenfalls grellweiß beleuchteten Zaun umgeben. Dann kamen McDonald’s und Pizza Hut, Buden, Kneipen und die Diskothek CELEBRITY . Eine Gruppe von Jugendlichen ging auf die Türe zu, die sich in dem Moment öffnete, ein

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