Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
dafür interessierte, konnte es Holtrops Gesicht in dem Moment ansehen, in eine wahnsinnige WUT . Ein Choleriker wie Schily oder Trüby hätte jetzt losgeschrien, hätte die berühmten Aschenbecher und Aktenordner von sich und irgendwohin in das Zimmer hineingeworfen, hoffentlich nicht in Richtung eines menschlichen Körpers, hätte dem Gegenüber durch die Teilhabe an dieser beherrschungslos ausgelebten Explosion, dem Ausbruch der Gefühle, aber doch immerhin die Herzlichkeit des Einblicks in das hocherregte Innere gegönnt, vielleicht eine menschlichere Reaktion als die bösartige, eisige Erstarrung und Bewegungslosigkeit, mit der Holtrop die wegen des etwas zu lange andauernden Schweigens seiner Mitarbeiter in ihm tobende Wut in sich verschlossen eingeschlossen hielt, absolut unerreichbar innerlich, und Dirlmeier wusste in dem Moment wieder einmal, wie kaputt und zuinnerst abgetötet Holtrop tatsächlich war, ein Freak, ein Irrer, ein Psychopath nur ohne Hitlerbart. Holtrop klopfte mit den Fingerkuppen beider Mittelfinger ganz leicht auf die Tischplatte vor sich und schaute durch Dirlmeiers Blick, der Holtrops Gegenblick suchte, hindurch ins Nichts.
Die Pressekonferenz ging aus der Vorstellung Holtrops in die Realität über und schaute dort extrem anders aus als erwünscht. Fahl und fahrig saß Holtrop zwischen Flath und Sennheiser, und die Meute der ihn jagenden Journalisten drängte lustvoll brutal als übermächtiges Kollektiv auf ihn ein, auf ihn allein. Die Pressekonferenz war ein Fehler, Flath hatte recht gehabt, und wieder waren die Resonanzen ein Desaster, noch schlimmer und greller als die desaströse Realität in echt schon gewesen war. Das also war der Juni gewesen, zuerst gut, Holtrop hatte sich von den Niederschlägen der achtzehnten Kalenderwoche erholt, war wieder gesund geworden, hatte dann aber Pech gehabt und neue Fehler gemacht, schlecht.
XXX
In der Vorstellung, nicht mehr viel Zeit zu haben, erschien Holtrop jetzt jeden Morgen vor sieben Uhr in der Hauptverwaltung an seinem Schreibtisch und entwickelte hektisch Aktivitäten in alle Richtungen. »Den Fall neu denken«, dachte Holtrop dauernd, es war aber eine sinnlose Melodie in seinem Kopf, weil an Denken in strengem Sinn wegen der inneren Hektik nicht mehr zu denken war. Andererseits war es auch nicht so, dass sich das extrem unnormal angefühlt hätte für Holtrop, denn die tatistisch orientierte Wirrheit war der Normalzustand seines Geistes, an den er sich in den Jahren der Fraglosigkeit gewöhnt hatte. Für Bilanzen war es zu früh. Aber Flashs aus allen Asspergjahren flammten frei und von allen Seiten her in Holtrops Hirn auf, während seine Augen auf die Papiere, die er vor sich ausgebreitet hatte, schauten und die Willensstelle in seinem Vorderhirn über den Augen die Konzentration der Gesamtperson Holtrop auf die dort schriftlich verzeichneten Worte einzustellen sich bemühte, allerdings vergeblich. Gruppe Print. Jagd, Uhren, Sport. Frau TV , Tier TV , Haus TV . Gruppe Geld. Play, Now, Young. Gruppe Service, Gruppe Welt, Gruppe Mensch und Human Resources. Einstellung, Gehalt, Karriere, Mobbing, Entlassung. »Entlassung«, dachte Holtrop und sah wieder die Totenmauer, in die man Thewe hineingestellt hatte, vor hundert Monaten war das gewesen, auf diesem unbeschreiblich unmenschlichen Totenfriedhof in Berlin. Eignungstest, Bedarf. Gruppe Food. Gruppe Gerät. Verkauf, Recht, Stiftung, Bank. Gesetze. Callcenter, Adressen. Illegal war alles, da hatte Blaschke recht. Unterhaltung, Internet, Computer, Werbung. Geld, GELD , Geld. Lächerlich waren auch Bodenhausens reich begüterte Hetzreden gegen das Geld. Südamerika. Spiele, Satellit. Asien. Produktion Textil, Produktion Gerät. Erze, Rohstoff, Gas. Osteuropa. Abbau Holz, Papierfabrik. Gruppe ganz Frankreich. Westeuropa Rest. Transport, Maut, Stahl. Gruppe Nordeuropa. Und natürlich, ja, lest we forget: Konzernsicherheit. Compliance, Überwachung. Intrige. Dolch, Gewand etc. An jeder dieser Stellschrauben könnte und müsste man drehen, am besten in die richtige Richtung, das war klar, aber es war auch absolut klar, dass kein Mensch wusste, was genau daraus folgen würde und ob die gewählte Drehrichtung folglich die richtige oder nicht doch, wie so oft, wieder einmal die falsche war, schon gar nicht Holtrop.
Das Leben des Menschen in der Gegenwart dauert drei Tage, mehr Zeit kann er nicht inkorporieren und so verlebendigen. Und weil die Gegenwart des Geistes nur drei Sekunden dauert,
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