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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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verschwunden waren.





DRITTER TEIL
I
    Dann war es dunkel geworden, es war nichts zu erkennen, es war Nacht, im Keller kam Gas aus der Wand. Wer da? Alles ist erleuchtet, hieß es wahrheitswidrig untertags. Stimmt ja gar nicht, Lüge, falsch. Die Lüge aber steigerte noch mehr die Finsternis der Welt.
    Den Menschen war das Ausmaß der Kaputtheit der Gesellschaft, die sie sich in den ersten zwei Jahrtausenden ihrer heutigen Zeit blind und willentlich, vernünftig, böse und kaputt erschaffen hatten, noch nicht vollumfänglich und in seinem ganzen Übermaß bekannt. Hier ein Tod und da, dachte jeder, der noch lebte, dort ein Unfall, da die Katastrophe mittlerer, hier eine von riesenhafter, bald auch schon planetarischer Dimension. Die Meere erhoben sich gegen den Menschen, und die Erde tat sich auf und riss jeden, der nicht im eigenen Hubschrauber auf der Flucht war oder in einer interplanetarischen Rakete unterwegs richtung Mars, Geschichte, Südseeinsel Hoffnung und wie die Märchen sich alle nannten, die die Leute sich zum Trost gegenseitig erzählten, via Höllenschlund in ihre glutrot brodelnde Tiefe. Und jedes Einzeldatum galt jedem einzelnen zunächst nur als neues isoliertes weiteres Einzelereignis, das eben so passierte, mehr nicht. ESCAPE ESCAPISM , stand in großen Buchstaben am Gymnasium von Schönhausen, read on, take care.
    Am Mittwoch, den 31 . Juli 2002 , kam Holtrop nachmittags um halb fünf zuhause an. Assperg war also Geschichte. Der letzte Arbeitstag lag hinter ihm. Es war herrliches Wetter, er hatte ein Taxi genommen. Terek war schon seit vergangenem Freitag dem neuen Vorstandsvorsitzenden Wenningrode als Fahrer zugeteilt. Holtrop war das egal. Es ging auch ohne Fahrer gut. Man ruft ein Taxi, das Taxi kommt und fährt einen, wohin man will. »Bringen Sie mich nach Hause«, hatte Holtrop zum Taxifahrer beim Einsteigen gesagt, sich dann sofort verbessert und seine Adresse genannt. Er war zwar nicht mehr CEO , verrückt geworden war er aber nicht. »Was bin ich schuldig?« sagte er zum Taxifahrer, bezahlte, gab exakt zehn Prozent Trinkgeld und ließ sich eine Rechnung geben. Das also war das neue Leben. Er stieg aus dem Taxi aus und schaute triumphierend auf die Haustüre seines Hauses. »Herrlich«, dachte er, atmete ein, das Taxi fuhr weg, dann ging er auf die Haustüre zu. Er sperrte sie auf. Er ging hinein. Er stand in der Vorhalle seines eigenen Hauses, mitten am Nachmittag eines ganz normalen Werktages, als freier Mensch. »Es ist vorbei!« rief er aus, quasi an alle gerichtet, und ging weiter ins Wohnzimmer. Da stand er dann und schaute sich um, schaute durch die Panoramafensterscheibe in den Garten hinaus, »ein gutes Gefühl«, dachte er, vom ungewohnten Moment noch ganz euphorisiert, und merkte im selben Moment, wie die Gutheit des Gefühls schon kippte und ungut wurde. Anruf bei Mack, er wählte die Nummer von Mack und hörte es läuten, wartete, schaute auf den Boden, lauschte in den Hörer hinein, da meldete sich die Mailbox von Mack, und Holtrop richtete sich auf und sagte, »es ist so weit, ruf mich zurück«. Dann ging er nach draußen. Dass niemand ihm antwortete, störte ihn kaum. Wahrscheinlich waren alle außer Haus unterwegs. Er ging quer durch den Garten über den Rasen auf den weißen Kaffeetisch, der in der Ecke unter den Bäumen stand, zu. Auf derTischplatte lag ein hellblaues Handtuch. Holtrop ging um den Tisch herum, setzte sich, nahm das Handtuch und hängte es sich um den Hals. Dann schaute er auf das Haus, schaute in den strahlenden Sommerhimmel darüber und stellte sich die einfache Frage: Wann hatte er zum letzten Mal den Himmel angeschaut?

II
    JULI . Ein Aufwind ging durch ihn durch, ein abiturientenhaftes Freiheitsgefühl erfüllte ihn für einen Moment: jetzt war er also endlich frei, die Welt stand ihm offen, alles war möglich, »ganz einfach«, dachte Holtrop, »herrlich«, der Zwang war weg, und von jetzt an würde er nur noch tun, was er wollte und wozu er Lust hatte und sonst nichts mehr. Das Gefühl war Kitsch, im Kern Depression, aber darüber wusste Holtrop, dessen Existenz bisher komplett von außen stabil gehalten worden war, wenig. Auch hatte er keine Erfahrung damit, wie die Leere der inneren Räume, die sich ihm plötzlich in den Gefühlsregungen öffneten, zu begehen, zu verstehen, ins Lebensganze hinaus zurückzuübersetzen wäre, er wusste gar nicht, wie das geht, in Dialog mit seinem Ich zu leben. Ungeduldig fiel sein Blick wieder auf das Handy,

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