Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
Kate Assperg in der Karstwüste ihres Gartens ein paar Meter vor dem Haus und krächzte Holtrop ihre Begrüßung entgegen. Zur menschlichen Kälte von Kate Assperg hatte Holtrop von Anfang an einen guten Rapport gehabt, aber die Verlogenheit war gewöhnungsbedürftig. Vor allem der Sound ihrer Stimme war schlimm: gequetscht, gepresst, gekünstelt. »Da kommt er also!« schrie sie viel zu hoch mit der vorgealterten Stimme des vierjährigen Mädchens, das in ihrem sadistischen Greisenkörper gefangen war. Hinter ihr trat der alte Assperg aus der Türe ins gleißende Licht des hohen Mittags. »Der verlorene Sohn«, sagte er zu Holtrop und streckte ihm seine Hand hin. »Ich wäre gern früher gekommen.« »Das sagen sie alle«, sagte der Alte, »nun kommen Sie schon herein.« Immer wenn Holtrop länger nicht mit dem alten Assperg zu tun gehabt hatte, war er erstaunt, wie wenig senil der Alte auf ihn wirkte, wie absolut erfreulich vital. Auch das diffuse Regime der Angst, das im Reich Assperg herrschte, war im Moment der direkten Begegnung mit dem Alten, obwohl der Terror doch von ihm ausging, von der Wirklichkeit des Fleisches quasi suspendiert. Da wusste Holtrop, dass er selbst an seinem Untergang schuld war. Er selbst hatte den Moment verpasst, wo er den Kontakt, der ganz normalen Abnutzungseffekten durch die langen Jahre des Zusammenarbeitens ausgesetzt gewesen war, von seiner Seite aus aktiv suchen hätte müssen. Dies hatte Holtrop versäumt, aus eigener Eitelkeit vorallem. Der Vorwurf von Kate Assperg, so scheußlich sie ihn auch vorbrachte, war im Kern völlig richtig: du magst mich nicht mehr. Das geht nicht, das ist erbärmlich. Und besonders dann, wenn es nur den einen dummen Grund hat, weil die Neuigkeit sich abgenutzt hat. Der Zukunftsfreak und Neuigkeitsapostel Holtrop, dem es auch aus dauernder Hektik heraus an der tieferen Herzensbildung fehlte, hatte keine zur Verhaltensführung ausgebildeten korrigierenden Intuitionen, die ihn vor dieser besonders wenig anziehenden Banalität, den Nahen nur deshalb zu verraten, weil er nahe und schon so lange da ist, bewahren hätten können. Und sein sowieso fahrig zerrütteter Intellekt hatte auf die Dinge des Zwischenmenschlichen überhaupt keinen Zugriff. Die Schizoidität des alten Assperg, der Sadismus von Kate Assperg und der überdrehte Infantilismus von Holtrop: das war die nicht unbedingt unweigerlich untergangwärts bestimmte, aber doch dorthin von Anfang an tendierende folie à trois an der Spitze der Assperg AG gewesen in den vergangenen vier Jahren. Die Zeit war um, der Tag war da, es ist vorbei.
Hinter dem alten Assperg her ging Holtrop ins Haus. Hier war es dunkel und kühl. Holtrop fühlte sich erleichtert, alles war plötzlich so klar, so einfach, wie er immer wollte, dass alles sei. Aber so war es nie, nie war irgendetwas einfach, nichts war einfach. »Was ist das?« fragteHoltrop und zeigte auf das Buch, das auf dem Couchtisch lag. »Hegel.« »Sie lesen Hegel?« fragte Holtrop freudig, weil er damit an frühere Gespräche mit dem Alten über Bücher anknüpfen konnte. »Lesen wäre zu viel gesagt, ich schaue manchmal rein.« »Interessant!« »Ja.« In dem Punkt hinter dem vom alten Assperg gesagten »Ja« und der darauf folgenden aggressiv defensiven, bewusst überdehnten Stille lag das ganze Elend des Alten. Er wusste nicht, was ein Gespräch ist, wann man wieviel gibt und nimmt, wann eine Pause, wann eine Suada dran ist. Holtrops Interesse erreichte ihn gar nicht. Er hatte irgendeinen Plan für diese Begegnung, den spulte der gestörte Kontaktautomat Old Assperg jetzt wie geplant ab. Ein Gespräch über Hegel war an dieser Stelle im Plan nicht vorgesehen und konnte deshalb auch nicht stattfinden. Bei Holtrop, der mit seinem herzlich offenen, interessierten Gesicht an der Mauer der Stille von Asspergs Schweigen brutal aufgeschlagen war, hatte sich im Aufschlagschmerz das Antwortwort gebildet: »Todessehnsucht.« Es war situationsbedingt unaussprechbar und wurde deshalb von Holtrop auch nicht ausgesprochen. »Nichts, Hegel, Tod«, dachte Holtrop, »kommen Sie mit«, sagte der alte Assperg, »wir gehen ein paar Schritte«.
Draußen waren Wolken aufgezogen. Das Grundstück der Asspergs lag in einer allseits uneinsehbaren Senke, nach Nordosten gegen das Meer hin geöffnet. Assperg und Holtrop gingen den Weg dort hinunter, Kate Assperg blieb oben am Haus stehen und schaute zu, wie die Rücken der beiden Männer im Gehen kleiner wurden, zuletzt
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