Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
das auf der weiß lackierten Metalltischplatte des Gartentischs vor ihm lag, schwarz und stumm, und die ganze Zeit keinen Ton von sich gab, es war still, vibrierte nicht. Holtrop hörte ein Geräusch von hinten und drehte sich um. Bei den Büschen bewegte sich am Boden ein flüchtendes Tier durch erdnahe Zweige. Dann ein Schrei von oben, Holtrop schreckte erneut herum, schaute hoch und sah einen knäuelartig zusammengeballten Flugkörper durch die Leere des Himmels über sichin die Tiefe stürzen, ein ganz normaler Raubvogel, nur sehr schnell, der von hoch oben her auf die Baumwipfel am äußeren Rand des Grundstücks zuhielt. »Herr Holtrop?« »Ja?«, antwortete Holtrop und ging auf die Frau im Hausmädchenkostüm zu, die vor der Wohnzimmertüre auf der Terrasse stand. Sie hatte ein Telefon in der Hand und winkte ihm damit zu. »Ein Anruf für Sie aus Brüssel«, sagte sie, und während Holtrop nickte und »sehr gut« sagte und über die Wiese auf das Haus zuging, kam ihm der verdunkelte Hochraum in den Sinn, der in Luxemburg von der Veerendonckbank als Bargeldschleuse benutzt wurde, Freigeld aus Brüssel war dort für ihn eingetroffen. Der Raum, in dem die Akten wie Gefangene gehalten wurden, war ein hoher, düsterer, an den Wänden mit Regalen bis zur Decke hoch zugestellter Bankraum im Keller. Die Regale waren mit zusammengesunkenen Papieren gefüllt. Ein Wandstreifen war frei, dort hing eine Uhr. Darunter stand ein Schreibtisch, gegenüber ein Arbeitstisch, um den herum fünf Stühle, alles war aus grobem Kantholz gemacht, dicke hölzerne Bohlen am Boden, kein Teppich. Von draußen kamen Schritte näher. Die Türe ging auf, der von Mack beauftragte Bargeldbote kam herein, nickte, schaute sich um und nahm das auf dem Tisch für ihn bereitgelegte Kuvert an sich. »Vielen Dank«, sagte Holtrop zur Hausmädchenfrau und übernahm das Telefon von ihr, dann drehte er sich wieder gartenwärts und meldete sich in den Hörer hinein mit seinem Namen. Der Anrufer aus Brüssel machte ihm die erfreuliche Mitteilung, dass die vorzinslichen Überlaufbecken des Luxemburger Bargelddepots mit der heutigen Einzahlung auf doppeltes Fassniveau angehoben werden konnten, und erklärte die steuerrelevanten Implikationen dieser für Holtrop vorteilhaften Depotanpassung. »Aha, aha«, sagte Holtrop mehrmals, ohne Einzelheiten zu verstehen, »verstehe, sehr gut, danke« und gingdabei über die hell besonnte Wiese zum Gartentisch zurück.
III
AUGUST . Die Tage dauerten lange und endeten nie richtig, sie hatten eine undeutlich vernebelte Randlosigkeit um sich herum. Holtrop stand viel zu früh auf, egal wie müde er war, so früh wie in den früheren Zeiten der äußerlichen Pflichten, er ging zum Workout in den Keller, ging meist auch noch hinaus zum Laufen, und bevor die sonstige Familie wach war, saß er am bisher untertags noch nie benutzten Schreibtisch seines häuslichen Arbeitszimmers, um ein kleines Memorandum zu verfassen, das die Umstände seiner fraglich rechtswidrigen Entlassung als Asspergvorstandschef zum Gegenstand hatte. Die Arbeitsrechtler der Kanzlei Gauweiler hatten ihn durch ihre Fragen dazu veranlasst. Schwunglos hatte Holtrop die entscheidende Sitzung des Vorstands nach seiner Rückkehr aus Mallorca mit einem um Lockerheit bemühten Scherz zum Thema »Verfolgungswahn« eröffnet. Der Finanzhai Maddoff hatte sich mit einem großkalibrigen Gewehr in seinem New Yorker Büro erschossen. Auf CNN war der Trump Tower gezeigt worden, die Straße davor war mit blauweißen Polizeigittern abgesperrt, und aus dem goldgefassten, viele Meter hohen Eingangsportal war Maddoff in einem schmutzigbraunen Plastiksack, der auf einer Bahre lag, herausgebracht und in einen auf dem Gehweg geparkten Lieferwagen hineingeschoben worden, die Türen wurden zugeschlagen, die Aufschrift lesbar: The Coroner’s Office. Holtrop dachte an seinen Großvater Johann Holtrop senior, der sich in den späten fünfziger Jahren, kurz bevor er die Firma an seinen ältesten Sohn Bernhard,Holtrops Vater, endgültig übergeben hatte, im Keller seines eigenen Hauses selbst erschossen hatte, und zwar auf sehr spezielle Art, mit einem gaumenwärts in den Mund gehaltenen Schrotgewehr. Die von einer solchen Waffe mit einem so geführten Schuss verursachte explosionsartige Zerfetzung der gesamten oberen Schädelhälfte, also auch der oberen Hälfte des Gesichts, das bis zur Mitte der Nase völlig intakt geblieben, oberhalb davon in Fetzen, Splittern, Matsch und
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