Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
schauten erfreut die Platte mit den vielen unterschiedlich belegten Broten an, nickten dabei sich selbst und einander zu, studierten eingehend die Auswahl, überlegten sehr gut und ganz genau, worauf sie gerade im Moment am meisten Lust hatten, und nahmen dann zwei oder drei der jeweils sehr verlockenden, aber auch viel zu klein dimensionierten Happen in die eine Hand, in die andere ein Glas Wein undgingen, wobei sie zugleich immer weiter nickten und aßen und tranken, vom Servierwagen wieder weg, ohne bei alledem das miteinander Reden auch nur für einen Augenblick unterbrochen zu haben. Holtrop wusste, dass diese Art Freude am informellen Imbiss danach gesund war und normal, auch wenn er selbst zu dieser Freude heute keinen Zugang hatte. Es war den Leuten offenbar komplett egal, wie das schmeckte, was sie da aßen und tranken, sie hatten den Mund dauernd voll, kauten und redeten dabei, immer beides gleichzeitig, und alle redeten zugleich, jeder redete auf den zufällig in seiner Nähe stehenden Anderen ein, ohne diesem Anderen, der selbst ja auch völlig selbstverständlich die ganze Zeit redete, weil er es angenehmer und ganz natürlich und normal für sich selbst fand, lieber zu reden als zuzuhören, selber auch zuzuhören, und die Größten und Gröbsten, Uhl und Schuster, redeten am lautesten und hatten am Essen und Reden und da Stehen und die anderen um sie herum brutal Niederquatschen sichtlich die fröhlich ausgelebte größte Freude. All das war Arbeit am Hass, Vergesellschaftung der Niedertracht, Entsorgung der gegenseitigen Verachtung, die jeder für jeden in sich hatte, direkt in den anderen hinein, Verkippung, Verklappung und zwischendurch Ausatmen: foetor ex ore, stinkender Mundgeruch weitergegeben im Reden, von Chef zu Chef.
Wenningrode hielt sein schlaffes, breiig aufgedunsenes Teiggesicht unzulässig nahe und sehr unangenehm riechend, nach Schweiß und Kopfhaut stinkend tatsächlich, vor Frau von Schroers Gesicht und in die Mitte zwischen ihrem und dem von Holtrop, so lange und penetrant, bis die beiden ihr Gespräch, das über die Brosseproblematik ging, kurz unterbrachen und Wenningrode zur Kenntnis nahmen, der dann sofort loslegte und irgendeinen Spezialistenschwachsinn über das Spießerthema Uhren abzusondern anfing, Breitling, Rolex, Zenith, Porsche, wovon er offenbar nicht die geringste Ahnung hatte, aber vier von irgendwelchen anderen Schwätzern zusammengeschnorrte Banalsätze in sein Sechzigsätzerepertoire, mit dem er jeden vor ihm Stehenden standardmäßig niederquatschen konnte, hatte er übernommen, ohne diese Sätze zu variieren, er wiederholte sie einfach, steckte das nächste Brot als Ganzes in den Mund, nahm sofort einen Schluck Wein dazu, kaute diesen Brei in seinem Mund zu Matsch und redete dabei dauernd weiter vor sich hin und schmatzte dabei, wie es eben so aus ihm herauskam. An dieser gleichgültig, aber vor der Zeugin von Schroer auch demonstrativ vorgeführten Unverschämtheit Wenningrodes, der sich eigentlich von dem ihm übergeordneten Holtrop zu- und niederquatschen hätte lassen müssen, merkte Holtrop, dass seine Zeit bei Assperg nach Ansicht Wenningrodes, die standardmäßig die Ansicht aller anderen in sich enthielt, offenbar als abgelaufen galt. Die Klarheit dieses Gedankens widerte Holtrop an. Er stellte sein Wasserglas weg und ging nach draußen. Wieder neigten sich ihm sofort und von allen Seiten die Gesichter der Leute zu, um den aus ihnen herauskommenden Text über ihm auszuleeren, und nickend und kopfschüttelnd und noch mehr nickend ging er zwischen all diesen Leuten und Gesichtern hindurch und an ihnen vorbei, bis er endlich allein im Gang stand.
Zum ersten Mal sah er die Szenerie hier mit Bewusstsein, die abgewetzte Sauberkeit, die billigen Türen, es war wirklich ein sehr scheußlicher Arbeitsplatz, stellte Holtrop erneut fest, es war richtig, sich hier so selten wie möglich aufgehalten zu haben, und wahrscheinlich war die Vorstellung, in diese fundamental und durch und durch verspießte und aufs Spießigste verblödete Welt der Firma und Familie Assperg auch nur einen Funken von Neuheit, von neuem Denken und neuen Ideen hineintragen zu können, ein vonAnfang an falscher Gedanke gewesen. Noch bevor Holtrop das Ende des Gangs und die Feuerschutztüre aus drahtdurchzogenem Panzerglas erreicht und aufgestoßen hatte, hatte er mit seinem Arbeitsplatz bei Assperg erneut, diesmal aber vielleicht wirklich endgültig abgeschlossen.
Im engen Schacht des
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