Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
die Türe des Assperghauses von innen aufstieß und ihm der nasskalte Schneewind ins Gesicht fuhr, »ein Wahnsinn«, dachte Holtrop, »mitten im April!«, die beiden Tabletten unterwegs hinüber zu seinem Büro in den Mund gelegt und mit etwas Speichel hinuntergeschluckt. Dirlmeier erwartete Holtrop mit der Nachricht, dass Ahlers sein Blaschkepapier offenbar schon an die Presse durchgereicht hatte. Die dpa und verschiedene andere Agenturen hätten gerne einen Holtrop-Originalton zu den fraglich illegalen Zahlungen der Assperg AG an verschiedene Sicherheitsfirmen in Krölpa und Umgebung.
XXIII
Dann war Holtrop krank geworden. Eine Sommergrippe hatte ihn gepackt und ließ ihn nicht mehr los. Er nahm die üblichen Mittel, Paracetamolspeed, Aspirinextra und Wickephedrin, ließ sich außerdem, wie von allen Sekretärinnen befohlen, zur Stärkung der sogenannten Abwehrkräfte von Gesundheitsarzt Dr. Morell jeden zweiten Tag Eigenblut und Yogaserum spritzen, aber all das nützte nichts. Die Grippe wechselte nur das Leitsymptom. Holtrop hatte Fieber, Husten, Gliederschmerzen, Schnupfen, und seine herrlich durchtrainierten Oberschenkelmuskeln taten ihm morgens beim Aufstehen so weh, als würden sie jede Nacht aufs Neue von Schwerlasttransportern überrollt. Zuletzt war noch eine eitrige Konjunktivitis am linken Auge dazugekommen. So ging Holtrop in die entscheidende achtzehnte Kalenderwoche, die 18. KW . Am Dienstag, 30 . April, war Vorstandssitzung. Am Mittwoch, 1 . Mai, tagte der Aufsichtsrat. Und am Donnerstag war die Jahreshauptversammlung der Assperg AG . Holtrop ersehnte den Freitag, an dem er zuerst in Krölpa einen seiner Mitarbeiteroffensiveauftritte zu absolvieren hatte und dann abends, ebenfalls unproblematisch, im Hamburger Überseeklub seinen aktuellen Standardvortrag, » Die Revolution der Wirtschaft , Chancen im 21 . Jahrhundert«, vor der gehobenen Zuhörerschaft des Clubs halten würde.
Hinter Panzerglas und Nebel taumelte Holtrop durch die erste Hälfte der Woche. Die üblichen Sitzungen verliefen wie sonst auch. Am Mittwoch hatte sich der Eiter aus dem linken Oberlid nach innen auf den Augapfel ergossen, die Schmerzen hatten nachgelassen, aber das Auge und der Gesichtsteil darunter waren dramatisch angeschwollen und feuerrot entflammt. So stand Holtrop am Donnerstagmorgen im Badezimmer vor dem Spiegel. So stand erein paar Stunden später hinter dem Vortragspult im Berliner Kongresszentrum ICC , um den leider ja wieder sehr massenhaft erschienenen, aufs allerherzlichste begrüßten Klein- und Kleinstaktionären im Bilanzvortrag seine Sicht der katastrophalen Lage der Assperg AG zu erläutern: Die Lage sei unkatastrophal. Die ergriffenen Maßnahmen eins bis neun seien alternativlos. Ihre Wirkung beginne bereits zu greifen. Dies sei auch zu beweisen. Dann folgte das einschlägige Feuerwerk der Zahlen, das Holtrop abfackelte, ohne es selbst verstanden zu haben. Zum ersten Mal, seit er diesen Job als CEO bei Assperg machte, kam er sich dabei wie ein Hochstapler vor. Diese Empfindung war durch den von der Krankheit stark reduzierten Allgemeinzustand Holtrops verursacht, wie Holtrop dachte, mehr als zwanzig Prozent seiner normalen Leistungsfähigkeit konnte er momentan, in Fußballerdeutsch gesagt, nicht abrufen, zum Zeitpunkt seiner Rede waren es vielleicht sogar nur zehn Prozent. Das auf dem riesengroßen TV -Screen hinter ihm übertragene Bild seines schwerstlädierten, auch noch schlecht geschminkten Gesichts sprach all dem, was er inhaltlich sagte, äußerlich in einem Ausmaß Hohn , dass nicht nur die notorisch bösartigen Fotographen der Presse ihre Witze darüber machten, sondern sogar in Holtrops eigenem Lager der Auftritt mit Entsetzen beobachtet wurde und Dirlmeier zu Riethuys sagte: »Das ist ja furchtbar.« »Ja«, hatte Riethuys geantwortet, »das schaut nicht gut aus.« »Schrecklich«, sagte Dirlmeier immer wieder und schüttelte seinen Kopf.
Nach der Rede hatte sich Holtrop allen weiteren Terminen, den geplanten Gesprächen und zufälligen Begegnungen, entzogen, war sofort ins Hotel gefahren und dort schwer krank ins Bett gegangen. Das Auge behandelte Holtrop nach Verordnung von Dr. Morell mit einer antibiotischen Salbe, die Schwellung des Gesichts mit Eiskompressen, und für die jetzt doch auch ausnahmsweise stark angeschlagene Zuversicht hatte Holtrop sich selbst eine ums mehrfache des Normalen erhöhte Dosis des bei ihm sonst bekanntlich immer sehr gut wirksamen Brainenhancers Tradon
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