Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
verordnet. Diese Therapie wirkte zuletzt. Ein Moment Zuversicht kehrte zurück. Dass er krank war, war Holtrop jetzt fast egal. Er machte den Fernseher an und war an diesem Tag für niemanden mehr zu sprechen. Angeblich sahen sich über sechzig Prozent aller Männer auf Geschäftsreise im Hotel kostenpflichtige Pornofilme an, für die sie morgens beim Auschecken aber nicht bezahlten, auch auf Nachfrage der Rezeptionistin das Anschauen der Pornofilme abstritten. Zu diesen sechzig Prozent der Männerwelt gehörte Holtrop nicht. Er interessierte sich zwar auch für Sexualität, aber auch für die dem entgegenstehenden Empfindungen der Scham. Dadurch war bei Holtrop die Sexualität im Alltag weniger penetrant präsent als bei anderen Chefs, was Holtrop bemerkte, aber für sich nicht bewertete. Von den vielen verschiedenen Fernsehprogrammen, durch die Holtrop sich an diesem langen Abend zunehmend behaglich treiben ließ, kannte er kaum eine einzige Sendung. Auch vom Fernsehen hatte er keine Ahnung, obwohl die Assperg AG durch den Verkauf von Werbezeiten mit dem Fernsehen sehr viel Geld verdiente. Jede Woche bekam er mindestens eine Einladung zu irgendeiner Talkshow. Er wollte dort nicht hingehen. Vielleicht müsste er das ändern. Zu dem einfachen Gedanken, dass er durch sein Nichtfernsehen von einem Beobachtungstool der Weltverhältnisse, speziell der Stimmung im deutschsprachigen Raum, abgeschnitten sein könnte, dass das auch für seine Arbeit von Nachteil sein könnte, kam Holtrop an diesem Abend nicht. Bei laufendem Fernseher war er eingeschlafen. Irgendwann in der Nacht war er aufgewacht und hatte das Gerät abgestellt.
Das Presseecho am nächsten Morgen war sehr schlecht. Holtrop hatte gut geschlafen, vielleicht war die Grippe über Nacht verschwunden. Aber die Berichte über die Hauptversammlung waren eine Katastrophe, schlimmer als die schlimmsten Vorhersagen prognostiziert hatten. Die Assperg AG und ihr Chef Holtrop waren am Ende, das war der Tenor aller Berichte. Es war die Stunde der sogenannten Neider, wie es in Holtrops Umfeld hieß, und die Missgunst der sogenannten Neider triumphierte. Das fundamental Orkushafte der Welt, das Holtrop sonst nicht so sehr beschäftigte, weil er selten gezwungen war, es zu beobachten, trat ihm an diesem Morgen in der Luxussuite Nr. 1116 des Berliner Ritz Carlton Hotels doch erstaunlich stark vor Augen und in den Sinn. Holtrop nahm nocheinmal eine Handvoll Tabletten und fuhr zum Offensivetermin ins Asspergcallcenter nach Krölpa.
XXIV
In Wirklichkeit waren es in Krölpa zwei Callcenter, die außerdem, obwohl sie auf dem Firmengelände von Assperg gelegen waren, gar keine richtigen Asspergbetriebe waren, sondern von einem Subunternehmer der Assperger Dienstesparte Advenio in eigener Verantwortung betrieben wurden. Den Weg vom Haupthaus ging die Delegation Holtrop zu Fuß, es war angeblich nicht weit. Auf halber Strecke setzte Nieselregen ein. Empört schaute Holtrop zu Thewenachfolger Leffers hin, der ihn begleitete und mit Informationen zum Termin zutextete. Auch die Straße, eigentlich nur ein schlecht geschotterter Forstweg, der immer löchriger und verschlammter wurde, je weiter an den Rand, je näher zu den Callcenterbauten man kam, bot Anlass für Blicke vorwurfsvoller Empörung. In gesundem Zustand wäre Holtrop von dieser Wanderung erheitert gewesen. Im Mischzustand aus grippaler Entkräftung und gesteigert übellauniger Aggressivität, die von den verschiedenen Tabletten, speziell auch durch die Tradonüberdosis hervorgerufen wurde, war Holtrop vom Dreck der sich hier präsentierenden Umstände dieses Offensivetermins wieder einmal sichtlich extrem, ja: angewidert.
Die Türe des Gebäudes, auf das die Delegation zugegangen war, war verschlossen. Holtrop trat aus der Gruppe heraus und ging einige Schritte zurück. Das Haus war ein provisorischer Neubau vom Anfang der 90 er Jahre, fensterlos, flach, verwahrlost. Zur Türe führten metallene Stufen hoch. Holtrop ging dorthin und schaute sich, während die Organisatoren hinter ihm telefonierten, das an die Wand geschraubte Firmenschild an, nagelneu, glitzernd war da die Schrift des Namens zu lesen: CONTACT GmbH. Nach einer Zeit erschien ein dicker Mann mit grinsendem Gesicht in der Türe. Der Mann lachte die Delegation Holtrop aus der voluminösen Mitte seiner Wohlgenährtheit heraus an und stellte sich als Stellvertreter des leider verhinderten Chefs der vom Subunternehmer Contact mit der Personalbereitstellung
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