Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
beauftragten, hier in Bad Langensalza ansässigen Zeitarbeitsfirma TEMPESTA vor, »Lüthje!« sagte er, »wie die Kartoffel!«. Diesen Scherz verstand Holtrop nicht. Lüthje war ein neuer Dicker vom Typ Dobrindt, Mappus, Döring, Heil: jung, fett, bombig unterwegs. »Kommen Sie mit!« rief er und winkte alle herein, »ich gehe mal eben vor!« Im Treppenhaus war ein Geruch von Salamipizza und fauligem Fett zu riechen, eigentlich ein Gestank, es war Mittag halb zwölf, »eigene Kantine!« rief Lüthje und zeigte richtung Keller, während er schnaubend und stampfend die Treppen hochstapfte. Im ersten Stock führte ein enger Gang in die Tiefe des Gebäudes. Lüthje zeigte im Gehen zu schwach funzelnden Lampen an der Decke und sagte: »Sparlichtlampen! Energiebewusstsein! Arbeitnehmerfreundlich!«
Dann öffnete er die Türe eines der sogenannten Floors. Der Raum wirkte eng, die Decke dunkel. In einzelnen Kabinen saßen die Telefonistinnen. Die Delegation versammelte sich auf engem Raum in der Ecke bei der Türe. Es waren etwa acht Reihen mit etwa fünf oder sechs Arbeitsplätzen, die zur Hälfte frei, zur Hälfte besetzt waren. »Alles neue Ergonomik!« sagte Lüthje, »werkschutzsicher perfekt optimiert!«, und zeigte triumphal über die Reihen der Arbeitsplätze hin. Deshalb sei die Zusammenarbeit mit der hier verantwortlichen Contact ein Glücksfall für die Tempesta und ihre Arbeitskräfte. Einige der Telefonistinnen standen von ihren Plätzen auf und kamen zur Delegation in die Ecke. Holtrop begrüßte die Frauen. Sie grüßten auch. Zu einem sinnloseren Termin war Holtrop auf seiner Offensivetour noch nicht gewesen. Was hatten die hier vor ihm stehenden Frauen mit Assperg zu tun: nichts. Was hatte Holtrop als Asspergchef mit der Kaputtheit der Arbeitsbedingungen in diesem erstickend vermufften Telefonistinnen- KZ zu tun: nichts. Was sollte er diesen Leuten sagen? Holtrop breitete die Arme aus und redete los. Dass er nichts zu sagen hatte, hinderte ihn ja wohl nicht daran zu reden. Um den Begriff vom transklassischen Wirtschaften , den der PR -Berater Maschinger für Holtrops Visionen geprägt und Holtrop neulich bei einem Gespräch zur Verwendung vorgeschlagen hatte, ließ Holtrop seine Rede vor den Telefonistinnen des Callcenters in Krölpa jetzt locker herumassoziieren. Holtrops Rede vor den Mitarbeitern war im Lauf der Offensivereise mit der Zeit etwas professioneller geworden, aber nicht unbedingt substanziell gehaltvoller. Im Gegenzug war die Skepsis der Mitarbeiter nach Holtrops Eindruck immer weiter gestiegen. Dennegal ob Holtrop in München ein CD -Presswerk und eine Plattenfirma besucht hatte, in Köln den jüngst gekauften TV -Dienstleister PERFECT SCREEN oder in Hamburg die Zeitschriftenredaktion des Assperger Peopleflagschiffs TALK , überall interessierten sich die Leute, die dort arbeiteten, wenig für Holtrops Begeisterung, noch weniger für seine wirtschaftstheoretischen Allgemeintheoreme, sondern für die eine fundamentale Frage: Wann werden wir verkauft? Wie viele Stellen werden gestrichen? Oder wird gleich der ganze Laden zugesperrt? Der enge, niedrige Raum, in dem Holtrop mit den Telefonistinnen, dem stellvertretenden Tempestachef Lüthje und seiner gesamten Delegation zusammengedrängt in einer Ecke dastand, begünstigte allerdings den Austausch von Sympathie zwischen den Körpern der verfeindeten Lager. Holtrops schlimm angeschlagene Optik erweckte, aus der Nähe gesehen, bei den Frauen Mitleid. Die gestern noch feuerrot angeschwollene Gesichtshälfte war etwas abgeschwollen und eingedunkelt, der Schnupfen hatte die Nase verstopft, der vom quälenden Hustenreiz produzierte Husten schüttelte Holtrop, während er redete. Eine äußerlich erbärmliche Figur abzugeben, erweckte im Gegenüber manchmal Erbarmen. Dies war für den granithaft optimistischen Strahlemann Holtrop eine Neuigkeit. So wie die Frauen mit ihm Mitleid hatten, weil er körperlich erkrankt war, fühlte er im Gegenzug für sie, weil sie sozial Schwache waren, plötzlich eine Art von echtem Mitgefühl. »Sind Sie denn zufrieden hier?« fragte Holtrop die Frauen. »Was können wir aus Ihrer Sicht verbessern?« Zuletzt bekam sogar dieses Gespräch zum Schluss von Holtrops Rede ein minimales Element des Dialogischen. Der absurde, objektiv sinnloseste Offensivetermin bei den mit der Assperg AG kaum mehr als schwach assoziierten Telefonistinnen des Callcenters in Krölpa war zum Schluss dieser Wocheder Kaputtheit, bilanzierte Holtrop
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