Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
Schönhausen stand, hatte Heinrich Assperg einmal im Kreis seiner Direktoren eine diesbezügliche, etwas unvorsichtige Bemerkung gemacht, die dann von einemSpitzel an den lokalen SS -Staatsschutz von NS -Bürgermeister Hädecke weitergegeben worden war usw. Nach dem Zusammenbruch der Front bei Grassassens hatte Heinrich Assperg sich über Überlingen, Kleinwalsersdorf und Jensfurt nach Warstein, Wartenstein und zuletzt Schönhausen durchgeschlagen, seine Tochter verheiratet, seine Nachfolge an der Firmenspitze geregelt und war dann, erschöpft von so viel immer neuer Begeisterung für einen Neuanfang nach dem anderen – für den herrlich verrückten, tödlichen ersten deutschen Weltkrieg, für den Parlamentsaufbruch von Weimar und den endlich wirk-lich effektiven, ordinären, stumpfen Volksmassenaufbruch zehn Jahre danach, begeistert für Hitler und seine charismatisch herausgebrüllten Hetzreden gegen die Juden, und wieder und noch einmal begeistert für die herrlich tödlichen Blitzkriegssiege zu Beginn des zweiten deutschen Weltvernichtungsweltkriegs, in den seine vom NS -Regime natürlich begeisterten Söhne begeistert gezogen und in dem sie dann gefallen waren, schließlich noch ein letztes Mal mit Begeisterung dabei beim deutschen Nachkriegsneuanfang, den die britischen Besatzungsorgane mit einer Verlagslizenz für Assperg unterstützten – vor der Zeit physisch und psychisch so kaputt gewesen, dass eine kleine Grippe im Eiswinter 46/47 ihn so sehr geschwächt hatte, dass der überall in Deutschland in diesem Monaten noch sehr gierig durchreisende Tod auch Heinrich Assperg von Schönhausen im Vorbeigehen mitgenommen und für immer aus der Welt der Lebenden herausentfernt hatte.
Sein Nachfolger Berthold Hofmann Assperg saß an dessen Schreibtisch, ohne von dessen Leben zu wissen. Aber auch von seinem eigenen Leben vor 1945 wollte er nichts wissen und wusste er nichts mehr. Zerstört von Lebensfülle und Geschichtslosigkeitsleere saß der heute alte Assperg als gebrochenes Männchen da, von seiner zweiten Frau,der SS -Betonfrisur-Kate, dauernd erniedrigt, den Brossebrief in der Hand, die Biographie gewordene Inkarnation der Stunde NULL als alter Mann, Anfang Juni 2002 . Um Punkt zwölf Uhr Mittag stand der Alte von seinem Schreibtisch auf und ging in die Kantine, um dort starr und allein an seinem Tisch sein Mittagessen zu essen, vor aller Augen.
XXVI
In gehobener Stimmung kam Holtrop am frühen Abend des 14 . Juni vor dem Hamburger Überseeclub an. Es war wieder ein Freitag, die wegen der Grippe verschobene Rede fand jetzt in einem besseren Umfeld als damals statt. Die Aufregung nach der Hauptversammlung hatte sich gelegt. Im Auto war Holtrop zum ersten Mal seit langem die Papiere seines Buchprojekts zur Freiheitsfrage, das er in Hongkong visionär entworfenen hatte, wieder durchgegangen und hatte mit dem für ihn typischen Selbstbewusstsein festgestellt, dass das dort Niedergelegte substantiell sehr wohl tragfähig sei. Das würde von ihm im Sommer ausgearbeitet werden, dachte Holtrop auf schröderianisch, »gar keine Frage«. Diese Ideen waren die Zukunft, der er sich jetzt zuwenden würde. Die Vergangenheit hatte sich auch nicht durchweg als Fehler herausgestellt, das Projekt Schönhausenoffensive war geglückt, es hatte ihm letztlich die Vertragsverlängerung gebracht. Das war überhaupt das Beste an der gegenwärtigen Lage, die Klarheit, mit der er sie illusionslos einschätzen konnte, dachte Holtrop, während der Wagen von Nordosten auf die Binnenalster zufuhr, Holtrop die Häuserfront, die Bäume, das Wasser vor den Bäumen und den Häusern sah und der Wagen vor dem Überseeclub anhielt. Holtrop schnellte aus dem Auto heraus und ging auf das Clubhaus zu. Die schwarze Tür öffnete sich, und von Bartning, 72 , der Präsident des Clubs, stand in der Tür, begrüßte Holtrop im Foyer und nahm ihn mit in die Halle. »Man fährt auf die Binnenalster zu und freut sich«, sagte Holtrop zu seinem Hamburger Gastgeber, »das geht mir jedes Mal so.« »Das ist Hamburg«, bestätigte von Bartning, »das liegt am Wasser hier und am Wind.« Die Hamburger hätten sich schöne Häuser ans Wasser zum Wohnen gebaut, das liege am Geld, so von Bartning, »Handel und Glück sind möglich«, das sei die Hamburger Wahrheit, die Tüchtigkeit der Hamburger Kaufleute seit Generationen. »Reich, aber schön«, sagte Holtrop, und von Bartning, der selbst kein Kaufmann, sondern Anwalt war, lachte. Sie waren an einem Ecktisch bei
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