John Corey 03 - Nachtflug
ihr auf, was möglicherweise die richtige Vorgehensweise war. Die andere ist Einschüchterung, aber die hatte Jill Winslow zweifellos schon vor fünf Jahren über sich ergehen lassen müssen, und seither hatte sie vermutlich gewisse Vorbehalte dagegen.
Ich berührte den Schorf an meinem Kinn, und Jill Winslow sagte: »Das sieht schmerzhaft aus. Wollen Sie etwas dafür haben?«
»Nein, danke, ich habe es in Salzwasser getaucht.«
»Oh ... wie ist das passiert?«
»Ich wurde in der Kasbah von Aden von Assassinen überfallen. Das ist im Jemen.« Und ich fügte hinzu: »Nur ein Witz. Wenn ich's recht bedenke, haben Sie Heftpflaster da?«
»Ja. Einen Moment.« Sie stand auf, ging zu einem Hängeschrank, holte einen Erste-Hilfe-Kasten heraus, kam mit Heftpflaster und einer antibiotischen Salbe zum Tisch zurück und gab sie mir.
»Danke«, sagte ich, schmierte ein bisschen Salbe auf den Schorf und wickelte dann das Heftpflaster aus. Sie stand da, als überlegte sie, ob sie mir helfen sollte, aber ich kriegte es allein hin.
Sie setzte sich wieder und sagte: »Sie müssen das sauber halten.«
Sie war eine nette Frau, und ich mochte sie. Leider würde sie mich in etwa zehn Minuten nicht mehr mögen. Ich legte das Pflasterpapier auf den Tisch, und sie warf einen kurzen Blick darauf.
Ich schwieg eine Weile, und schließlich fragte sie mich: »Warum wollen Sie über Bud Bescheid wissen und über mein Verhältnis zu ihm?“
»Es gibt ein paar Ungereimtheiten zwischen Ihrer Geschichte und seiner damaligen Aussage. Erklären Sie mir zum Beispiel, was aus dem Video geworden ist, nachdem Sie es sich in Ihrem Zimmer im Bayview Hotel angesehen hatten.«
»Was hat er gesagt?«
»Sagen Sie es mir.«
»Na schön ... nachdem wir uns das Video angesehen hatten, bestand er darauf, dass wir es löschen sollten. Also haben wir die Aufnahme gelöscht und das Hotel verlassen.«
Das stimmte nicht mit dem überein, was mir der gute alte Ted erzählt hatte. Aber jetzt kam eins zum anderen.
»Ich möchte, dass Sie die Sache mit mir etwas genauer durchgehen. Okay?« sagte ich zu ihr. »Sie haben also den Strand verlassen und waren auf der Rückfahrt zum Hotel. Was haben Sie da gemacht?«
»Nun ja ... ich habe in den Sucher der Videokamera geblickt und gesehen, was wir aufgenommen hatten ... das explodierende Flugzeug ...« Sie schloss die Augen und holte tief Luft. »Es war einfach furchtbar. Schrecklich. Ich möchte so etwas nie wieder erleben.«
Ich nickte und schaute sie an, während sie in ihre Kaffeetasse starrte. Ich hatte das Gefühl, dass sie vor fünf Jahren möglicherweise eine andere Frau gewesen war. Vielleicht ein bisschen fröhlicher und lebhafter. Was am 17. Juli 1996 geschehen war, hatte sie traumatisiert, und das, was hinterher passiert war, hatte sie enttäuscht, verbittert und vielleicht auch verängstigt. Und dann war da noch Mark Winslow, dessen Gesicht ich durch die Windschutzscheibe seines Mercedes' gesehen hatte. Und sie war immer noch hier, fünf Jahre später, und sie wusste, dass sie noch lange hier sein würde. Das Leben war eine ständige Abfolge von Kompromissen, Enttäuschungen, Vertrauensbrüchen, Fragen und Selbstzweifeln. Ab und zu kriegt man es auf Anhieb richtig hin, und manchmal, seltener allerdings, bekommt man die Gelegenheit, es noch einmal zu versuchen und vielleicht beim zweiten Mal hinzukriegen. Ich wollte Jill Winslow eine weitere Möglichkeit bieten, und ich konnte nur hoffen, dass sie sie annahm.
Sie wirkte wieder gefasst, und ich sagte zu ihr: »Sie haben also die Explosion im Sucher gesehen.«
Sie nickte.
»Und Bud ist gefahren.«
»Ja. Ich habe zu ihm gesagt: Halt an. Das musst du dir anschauen , oder so was Ähnliches ...«
»Und was hat er gesagt?«
»Nichts. Ich habe zu ihm gesagt: Wir haben die ganze Sache auf Video. «
Ich saß eine ganze Weile da und wollte sie weiter ausfragen. Gleichzeitig aber auch nicht. Aber ich war hier, um Fragen zu stellen, deshalb sagte ich: »Haben Sie auch den Lichtschweif auf dem Video gesehen?«
Sie schaute mich an. »Natürlich«, erwiderte sie.
Ich schaute aus dem Erkerfenster, durch das man den Innenhof sah. Dort befanden sich ein mit Schieferplatten ausgelegter Patio, ein Swimmingpool und schließlich ein knapp einen halben Hektar großer Garten. Die Rosen sahen immer noch gut aus. Natürlich.
Ich goss mir noch eine Tasse Kaffee ein, räusperte mich und fragte sie dann: »Und dieser Lichtschweif war nicht die Spiegelung des brennenden
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