Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
John Grisham

John Grisham

Titel: John Grisham Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das Gesettz
Vom Netzwerk:
oder später traf man hier so gut wie jeden, auch die Leute, deren Namen man längst vergessen hatte und deren Gesichter einem nicht mehr richtig bekannt vorkamen. Manche Namen und Gesichter blieben einem im Gedächtnis und waren selbst nach Jahren noch präsent. Andere dagegen vergaß man sofort wieder, und die meisten davon aus gutem Grund.
    Für Stanley Wade war der Anlass für diese Begegnung unter anderem eine hartnäckige Erkältung seiner Frau und die Tatsache, dass sie etwas zu essen brauchten. Dazu kamen einige andere Gründe. Nach einem langen Tag im Büro rief er zu Hause an und erkundigte sich, wie es seiner Frau gehe und was mit dem Abendessen sei. Sie teilte ihm recht brüsk mit, dass sie keine Lust habe, etwas zu kochen, und sowieso nicht viel essen könne und dass er, falls er Hunger habe, etwas mitbringen solle. Hatte er abends schon einmal keinen Hunger gehabt? Nach einigem Hin und Her einigten sie sich auf Tiefkühlpizza, was so ziemlich das Einzige war, das Stanley zubereiten konnte, und seltsamerweise auch das Einzige, worauf seine Frau vielleicht Appetit haben würde. Am liebsten mit Salami und Käse. Komm bitte durch die Küche ins Haus und achte darauf, dass die Hunde ruhig sind, wies sie ihn an. Vielleicht liege sie ja auf dem Sofa und schlafe.
    Der am nächsten gelegene Supermarkt war ein Rite Price, ein alter Discounter ein paar Straßen vom Stadtzentrum entfernt, mit schmutzigem Boden, niedrigen Preisen und billigen Werbegeschenken. Vor allem Kunden aus den unteren Schichten kauften hier ein; die meisten gut verdienenden Weißen gingen in den neuen Kroger südlich der Stadt, für den Stanley aber einen Riesenumweg hätte machen müssen. Er brauchte doch nur eine Tiefkühlpizza, die konnte er überall kaufen. Schließlich ging es ja nicht darum, frische Bioprodukte zu bekommen. Er hatte Hunger, wollte Junkfood und möglichst schnell nach Hause.
    Stanley ignorierte die Einkaufswagen und Körbe und ging schnurstracks in die Tiefkühlabteilung, wo er sich für eine extragroße Pizza mit italienischem Namen und Frischegarantie entschied. Er schloss gerade die vereiste Glastür, als ihm auffiel, dass dicht hinter ihm jemand stand. Jemand, der ihn gesehen hatte, ihm gefolgt war und ihm jetzt buchstäblich im Nacken saß. Jemand, der sehr viel größer war als Stanley. Jemand, der sich nicht für Tiefkühlmahlzeiten interessierte, zumindest nicht jetzt. Stanley drehte sich um und starrte in ein hämisch grinsendes, unzufriedenes Gesicht, das er irgendwo schon einmal gesehen hatte. Der Mann war um die vierzig, etwa zehn Jahre jünger als Stanley, mindestens einen halben Kopf größer und erheblich breiter gebaut. Stanley war schlank, fast zierlich, und alles andere als muskulös.
    »Sie sind doch Wade, der Rechtsanwalt?«, fragte der Mann. Es klang nicht wie eine Frage, eher wie ein Vorwurf. Selbst die Stimme kam Stanley irgendwie bekannt vor - ungewöhnlich hoch für eine derart imposante Gestalt, vom Land, aber nicht dumm. Eine Stimme aus der Vergangenheit, daran gab es keinen Zweifel.
    Stanley ging zu Recht davon aus, dass es bei ihrer letzten Begegnung - wann und wo auch immer sie stattgefunden hatte - um irgendeinen Prozess gegangen war, und man brauchte kein Genie zu sein, um zu vermuten, dass der Mann und er nicht auf derselben Seite gestanden hatten. Für viele Anwälte, die ihre Kanzlei in einer Kleinstadt haben, gehört es zum Berufsrisiko, Prozessgegnern von früher über den Weg zu laufen. Sosehr Stanley auch versucht war, er brachte es nicht fertig, sich zu verleugnen. »Stimmt«, sagte er, während er krampfhaft seine Pizza festhielt. »Und Sie sind?«
    Plötzlich ging der Mann an Stanley vorbei, nahm dabei seine Schulter etwas nach unten und versetzte ihm einen gewaltigen Stoß, so dass er gegen die Glastür geschleudert wurde, die er gerade geschlossen hatte. Die Pizza fiel zu Boden. Stanley fand das Gleichgewicht wieder und bückte sich, um sein Abendessen aufzuheben. Dann drehte er sich um und sah, wie der Mann den Gang hinunterlief und um die Ecke bog, wo es zu Frühstücksprodukten und Kaffee ging. Stanley holte tief Luft und wollte ihm etwas Provozierendes nachrufen, doch dann besann er sich eines Besseren. Er blieb stehen und versuchte, den einzigen feindselig gemeinten Körperkontakt zu analysieren, den es in seinem Erwachsenenleben bis jetzt gegeben hatte. Er war nie ein Raufbold, Sportler, Trinker oder Unruhestifter gewesen. Nicht Stanley. Er war der Denker, der Streber,

Weitere Kostenlose Bücher