John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
du tun, wenn der Scheich bestimmt hätte, dass für dich die Zeit gekommen ist, um den Märtyrertod zu sterben?«
Mit einem raschen Blick sah sich Wells im Raum um. Auch wenn nur ein Gewehr sichtbar war, waren die anderen vermutlich bewaffnet. Trotzdem hätte er vielleicht eine Chance. Ein Fluchtversuch in diesem Augenblick wäre womöglich ein Fehler. Denn Sawahiri wirkte geschäftsmäßig, als wäre er tatsächlich an seiner Antwort interessiert. Außerdem hätten sie ihn nicht den langen Weg hierhergebracht, nur um ihn zu töten; das hätten sie in den Bergen leichter erledigen können, und auch Sawahiri selbst hätte sich wohl kaum die Mühe gemacht, dafür in die Stadt zu kommen.
»Wenn Allah wünscht, dass ich als Märtyrer sterbe, dann möge es geschehen«, sagte Wells.
»Selbst wenn du nicht weißt, warum?«
»Wir verstehen die Wege des Allmächtigen nicht immer.«
»Das ist richtig«, stimmte Sawahiri zu. »Sehr gut.« Damit stand er auf. »Jalal – John – du bist Amerikaner.«
»Ich war Amerikaner«, sagte Wells. »Aber jetzt diene ich Allah.«
»Du hast in der amerikanischen Armee als Fallschirmspringer gedient.«
Jetzt nur keine Diskussion, sagte sich Wells. Sie versuchen, dich zu testen. »Meine Vergangenheit ist kein Geheimnis, Mudschahid. Ja, sie haben mich zu kämpfen gelehrt, aber sie folgen dem falschen Propheten. Während ich den wahren Glauben angenommen habe.«
Sawahiri wechselte einen kurzen Blick mit dem Mann, der in der Ecke saß. Ein attraktiver Pakistani mit ordentlich geschnittenem schwarzem Haar und kleinem Oberlippenbart.
»Du kämpfst nun schon seit Jahren mit uns. Du hast den Koran studiert, und du fürchtest dich nicht vor dem Märtyrertod. Selbst jetzt wirkst du ruhig.« Bei diesen Worten griff Sawahiri nach der Kalaschnikow des Wächters, entsicherte die Waffe beinahe lustlos, sodass sie auf Vollautomatik geschaltet war, und legte auf Wells an.
»Jeder fürchtet den Märtyrertod. Wer etwas anderes behauptet, lügt«, sagte Wells in Erinnerung an all die Männer, deren Tod er mit angesehen hatte. Falls er mit diesen Worten falsch lag, konnte er nur hoffen, dass Sawahiri zumindest ein guter Schütze war, der die Angelegenheit schnell erledigte.
»Das heißt also, dass du doch Angst hast?«, fragte Sawahiri, während er den Schlitten zurückzog und damit eine Kugel in die Kammer schob.
Wells verharrte regungslos. Auf jeden Fall würde er nicht
lange warten müssen. »Ich vertraue auf Allah und den Propheten«, sagte er.
»Siehst du?«, sagte Sawahiri zu dem Mann mit Oberlippenbart, ehe er den Schlitten des Gewehrs wieder zurückzog, der die Kugel aus der Kammer schob, die Sicherung wieder einklinken ließ und die Waffe dem Wächter zurückgab. »Wenn du auf den Propheten vertraust, dann vertraue ich auf dich«, sagte er. »Und ich habe eine Mission für dich. Eine wichtige Mission.« Damit deutete Sawahiri auf einen dicken Mann, der während des gesamten Treffens schweigend in der Ecke gesessen war. »Das ist Farouk Khan. Mit Allahs Willen hat er eine Aufgabe für dich.«
»Salam aleikum.«
»Aleikum salam.«
Dann wies Sawahiri auf den Mann mit Oberlippenbart. »Und das ist Omar Khadri. Ihn wirst du etwas später wiedersehen. In Amerika.«
Khadri trug westliche Kleidung: ein Hemd mit Buttondown-Kragen und Jeans. »Hello, Jalal«, grüßte er auf Englisch. Auf Englisch! Als käme er direkt aus Oxford. Khadri streckte ihm sogar die Hand entgegen, die Wells automatisch schüttelte – ein sehr westlicher Gruß. Während sich arabische Männer üblicherweise umarmten.
»Sie sind fertig«, rief Walid aus dem Gang.
»Dann bring sie herein«, forderte ihn Sawahiri auf.
Sofort kam Walid in das Zimmer und übergab Sawahiri zwei Pässe.
»Sehr gut«, sagte Sawahiri, während er Wells die Ausweise reichte: einen italienischen und einen britischen mit den vor wenigen Minuten von Wells aufgenommenen Fotos. Beide waren so gut, dass sie selbst einen erfahrenen Mitarbeiter der Einwanderungsbehörde täuschen würden.
»Heute ist Freitag«, fuhr Sawahiri fort. »Am Dienstag geht ein Flug der Pakistan Airlines nach Hongkong. Ein Freund im ISI« – dem pakistanischen Militärgeheimdienst Inter-Service Intelligence – »wird dich auf diesem Flug unterbringen. Für die Einreise in Hongkong wirst du deinen italienischen Pass verwenden. Dann wartest du eine Woche, bevor du nach Frankfurt fliegst. Von dort solltest du mit dem britischen Pass ohne Probleme in die USA einreisen
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