John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
nicht wissen können. Niemand hatte das wissen können. Aber dennoch. Um ein Haar hätte sie dreihundertsieben Menschen getötet.
Das war wirklich der perfekte Abschluss für diesen Abend, dachte Exley. Nachdem sie den letzten Rest des Weines ausgetrunken hatte, ging sie zu ihrem Medikamentenschrank und suchte nach einer Schlaftablette. Aus der düstersten Phase ihrer Scheidung musste sie noch eine Packung haben.
Um heute Nacht schlafen zu können, würde sie die Tablette brauchen.
3
Wells fiel es schwerer als erwartet, wieder Amerikaner zu sein.
Seinen ersten Schock bekam er, noch ehe das Flugzeug in Hongkong landete. Die A-310 der Pakistan Airlines war zunächst eine Schleife über die erleuchtete Stadt geflogen. Seit ewigen Zeiten hatte Wells kein funktionierendes Stromnetz gesehen. Die Stammesältesten in seinem Dorf hatten zwei laute, stinkende Dieselgeneratoren besessen, die gerade genug Strom erzeugten für die Glühbirnen und die wenigen Fernsehgeräte der Siedlung. Aber nichts im Vergleich zu diesem Meer aus gelben und orangefarbenen Lichtern, das unter Wells’ Fenster glühte, den roten Blinklichtern an den Funktürmen von Hongkong Island und dem weißen Schimmer der Wolkenkratzer. Ich habe ganz vergessen, dass Menschen ebenso leicht aufbauen, wie sie zerstören, dachte Wells.
Sobald der Jet landete, erhoben sich die Passagiere rund um ihn und kramten nach ihren Taschen. Wells konnte sich nicht bewegen. Ihn lähmte ein Gefühl, das er nicht benennen konnte. Es war weder Furcht noch Hoffnung, eher das Gefühl, dass die Zeit nach langem Stillstand plötzlich wieder zum Leben erwacht war und er in einem einzigen Augenblick um ein Jahrzehnt gealtert war. Er wusste, dass er glücklich sein sollte. Immerhin war er frei. Nun, das stimmte nicht ganz. Er hatte nur einen neuen Kampfplatz mit noch
höherem Risiko betreten. Überwältigt von Müdigkeit, blieb er regungslos sitzen, bis sich die Kabine geleert hatte und ihn eine Flugbegleiterin an der Schulter berührte.
»Alles in Ordnung, Sir?«
»Ja, alles in Ordnung«, sagte er, während er nach seiner Tasche griff und davonging. Er sollte doch keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Glänzende Plakatwände für das Hyatt, für Gucci, IBM, Cathay Pacific Airways und ein Dutzend anderer Firmen füllten die klimatisierte Ankunftshalle. Jede der Frauen auf den Anzeigen war hübscher als die vorige, und alle zeigten genug Haut, um in der Nordwestprovinz ausgepeitscht zu werden oder eine noch schlimmere Strafe zu erhalten. Von den Reklamewänden senkte Wells den Blick auf den polierten Boden der Halle. Überall um ihn herum waren Frauen: Chinesinnen, Weiße, Inderinnen und Filipinas. Und alle spazierten allein umher, ohne männliche Begleitung, mit unverhüllten Gesichtern und unbedeckten Armen und Beinen. Einige von ihnen trugen sogar Make-up. Als ein hübscher japanischer Teenager mit knallrot gefärbtem Haar an ihm vorübereilte, wandte Wells den Kopf, um dem Mädchen nachzusehen. Gleichzeitig ärgerte ihn der Anblick, was für ihn unerwartet kam. Konnten sich diese Frauen nicht etwas schicklicher kleiden? Natürlich mussten sie keine Burkas tragen, aber Miniröcke mussten es auch nicht sein.
Auf einer Bank vor dem Starbucks-Café in der Ankunftshalle dachte er über seine Reaktion nach. Nach zehn Jahren Enthaltsamkeit sollte ihn dieses Fest nackter Haut vor seinen Augen begeistern. Immerhin gab es an den Taliban nichts, das ihn so störte wie ihr Umgang mit Frauen. Offenbar hatte er die fundamentalistischen Richtlinien tiefer verinnerlicht, als er vermutet hatte. Vielleicht brauchte er aber auch nur
wieder einmal eine Frau. In Afghanistan und Pakistan war Sex nahezu unmöglich gewesen. Die Dorfbewohner waren nicht daran interessiert, ihre Töchter mit Al-Quaida-Kämpfern zu verheiraten, geschweige denn mit einem Amerikaner. Und Sex außerhalb der Ehe war das Risiko nicht wert. Die Taliban und die Paschtunen besaßen einen grenzenlosen Einfallsreichtum, was die Bestrafung von Prostitution und Ehebruch betraf. Nachdem Wells gesehen hatte, wie man einen Mann lebendig begraben und ein halbes Dutzend andere gehenkt hatte, hatte er seine Libido unter Verschluss gehalten. Er erinnerte sich nicht einmal mehr daran, wie eine Frau duftete.
Das sollte er ändern. Von den Muslimen erwartete man, dass sie sich den Sex für die Ehe aufhoben, aber Wells wusste, dass er nicht für alle Zeiten enthaltsam leben konnte. Auch wenn er beschlossen hatte, für Sex nicht zu
Weitere Kostenlose Bücher