John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
Street zu ihrem Apartmentblock fuhr. Nach der Trennung von Randy war sie in die Stadt Washington übersiedelt. Damit verlängerte sie ihren Arbeitsweg auf das Doppelte und unterwarf sich freiwillig den unglaublich hohen Steuern von Washington. Ihr war es jedoch wichtig gewesen, etwas Abstand zu Randy zu gewinnen, und sie bereute ihre Wahl in keiner Weise. In unmittelbarer Nähe des Logan Circle, einem einst verrufenen
Viertel, das durch den turbulenten Immobilienmarkt Washingtons aufgewertet worden war, hatte sie sich ein Apartment gekauft. Samstagnacht fuhren aber immer noch einige Prostituierte auf der 13th auf und ab auf der Suche nach hinter dem Mond lebenden Freiern, die noch nicht von der Erneuerung des Stadtviertels wussten. Im Lauf der Zeit hatte sie die Frauen kennen gelernt – zumindest dem Namen nach – wenn sie einander an der Tankstelle einen Block von ihrem Apartmenthaus zufällig trafen.
Nachdem sie den Van in der unterirdischen Garage des Wohnblocks geparkt hatte, trottete sie zum Fahrstuhl. Von den vielen Stunden am Schreibtisch schmerzten ihre Beine. Jetzt wünschte sie sich nichts mehr als ein oder zwei Glas Rotwein, bevor sie zu Bett ging. Das war nicht die ganze Wahrheit. In Wirklichkeit wünschte sie sich viel mehr als bloß ein Glas Wein: Vielleicht eine Rückenmassage, einen Freund, einen Job, der sie nicht ständig zur Erschöpfung und an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Aber die ersten beiden Dinge standen nicht unmittelbar zur Verfügung, und was ihren Job betraf, so wusste sie, dass sie es wohl kaum über sich bringen würde, die CIA zu verlassen, egal, wie schlimm es auch noch kam. Immerhin kämpfte sie für die USA. Selbst für das doppelte Gehalt und die Hälfte der Arbeitsstunden konnte sie sich nicht vorstellen, für ein privates Risikomanagementunternehmen zu arbeiten. Vielleicht würde sie in ein paar Jahren so ausgebrannt sein, dass sie gehen musste, aber jetzt noch nicht.
Keine Rückenmassage, kein Freund, kein neuer Job. Stattdessen ein Glas Shiraz.
In dem ordentlichen Einzimmerapartment, das im dritten Stock an einer Ecke des Gebäudes lag, schob Exley die Ella-Fitzgerald-CD in den Spieler, öffnete eine Flasche Wein und
streckte sich auf der Couch aus. Dabei sah sie sich für einen Augenblick selbst im Spiegel. Gütiger Himmel, wie müde sie aussah. Dabei erinnerte sie sich noch, dass sie einmal hübsch war. Sie besaß sogar noch Fotos, die dies bewiesen. Aber das Alter war nicht gerecht zu den Frauen, außer sie waren Schauspielerinnen oder Vorzeigeehefrauen, denen gigantische Summen für ihr persönliches Wohlbefinden zur Verfügung standen. Auch wenn sie immer noch eine gute Figur hatte und ein Blick aus ihren Augen einen ganzen Raum erleuchten konnte, würde nur Botox gegen die Krähenfüße um die Augen und die Falten am Hals helfen, und sie konnte sich einfach keine kosmetischen Eingriffe an ihrem Körper vorstellen. Sie fragte sich auch, ob es den meisten Männern überhaupt wichtig wäre und ob sie es bemerken würden. Vermutlich nicht. Aber schon allein diese Frage war das Problem. Denn diese Frage untergrub das Selbstbewusstsein. Sie und die unzähligen Fotos von gerade einmal zwanzigjährigen Models in den Zeitschriften.
Sobald sie das Glas geleert hatte, schenkte sie sich nochmals ein. Ironischerweise war Randys Verlobte pummelig, um es offen zu sagen, auch wenn sie in paar Jahre jünger war. Außerdem wusste sie, dass er sich immer noch zu ihr hingezogen fühlte. Nur war er es leid geworden, dass die Agency immer an erster Stelle stand. Das konnte sie ihm nicht einmal übel nehmen. Aber ihr Job gestattete keine Kompromisse. Wie denn auch, wenn die Bösewichte jederzeit zuschlagen konnten?
Wie etwa heute Nachmittag. Wenn man ihren Ratschlag befolgt hätte …
»Himmel«, rief sie laut aus in dem leeren Raum.
Shafer hatte es selbstverständlich gewusst, aber er war zu taktvoll, um es auszusprechen. Kein Wunder, dass er
ihr Sonntag freigegeben hatte. Er wusste, dass sie es irgendwann selbst erkennen würde. Wenn man heute Nachmittag ihren Ratschlag befolgt hätte, wären dreihundertsieben Menschen gestorben. Denn wenn Flug UA 919 vor den Turbulenzen über New Jersey in Boston oder Hartford gelandet wäre, hätte das Mobiltelefon funktioniert und das Flugzeug wäre abgestürzt.
»Gütiger Gott«, stieß Exley hervor, leerte hastig das Glas und schenkte sich nochmals Wein ein. Dann versank sie in der Couch und schloss die Augen. Natürlich hatte sie das
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