John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
garantierten Atombomben die nationale Sicherheit wie keine andere Waffe.
Kein Land, das offiziell Atomwaffen besaß, war je invadiert worden. Unter dem Schutz von Atomwaffen könnte der Iran seine Nachbarn noch aggressiver herumstoßen und käme seinem Ziel – der Zerstörung Israels – einen entscheidenden Schritt näher.
Aus diesem Grund hatten Washington und Jerusalem einander geschworen, alles zu unternehmen, um zu verhindern, dass Teheran auch nur eine einzige Bombe erhielt. Aber waren sie dazu imstande? Jeder, der behauptete, dies mit Sicherheit zu wissen, war ein Narr, dachte Li. Seine Analytiker von der National Defense University in Peking hatten die Situation ein halbes Dutzend Mal durchgespielt und waren jeweils zu einem anderen Ergebnis gelangt. Der Iran konnte sich ebenso wenig sicher sein. Als eine Konfrontation mit den USA und Israel näher rückte, hatte sich der Iran deshalb um Unterstützung an China gewendet.
Und China? China hatte gute Gründe, dem Iran zu helfen. Und Li hatte ebenfalls Gründe, in diesem Fall persönliche Gründe, die sich wohl keiner seiner Ministerkollegen im Ständigen Ausschuss des Politbüros vorstellen konnte.
So war Li im vergangenen Jahr dreimal mit diesem Airbus 340 zu geheimen Gesprächen mit dem iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad nach Teheran gereist.
Die Verhandlungen waren nicht einfach gewesen. Auch wenn China und der Iran einander möglicherweise brauchten, bedeutete dies nicht, dass sie einander auch vertrauten. Li empfand die Atmosphäre in Teheran als ebenso erstickend wie die langen schwarzen Gewänder, die die Frauen trugen, und die im gesamten Land herrschende fanatische Verehrung des Islam als ebenso verwirrend wie die Rufe zum Gebet, die durch den Präsidentenpalast hallten.
Vor seinem ersten Besuch im Iran hatte sein Stab einen dicken Ordner über den Islam für ihn zusammengestellt. Er hatte kurz ein paar Seiten durchgeblättert, ehe er den Ordner beiseitewarf. Propheten, Engel, Teufel, ein allwissender Gott … der Islam klang genau wie das Judentum und das Christentum. Alles dasselbe, und Li glaubte an nichts davon. Wie viele Chinesen war Li nicht sehr religiös, auch wenn er häufig unechtes Geld zu Ehren seiner vor langer Zeit verstorbenen Eltern verbrannte. Er wollte dieser Welt seinen Stempel aufdrücken und nicht auf ein weiteres Leben warten. Inzwischen hatte er eine Frage an seinen Gastgeber, die er jedoch nicht zu stellen beabsichtigte: Wenn die Iraner so großes Vertrauen in Allah setzten, warum dann ihr verzweifeltes Streben nach Atombomben?
Sobald der Airbus A340 seine Reisehöhe von elftausendsechshundert Meter erreicht hatte, drückte Li auf den Knopf an seinem Lederliegesessel. Innerhalb weniger Sekunden tauchte Sun Wei auf, der Steward des Airbus. »General.«
»Bitte fragen Sie die Piloten, ob wir einen ruhigen Flug erwarten dürfen.« Nur wenige chinesische Männer seines Alters trainierten – die meisten gaben sich mit Tai-Chi zufrieden -, aber Li nahm sein Trainingsprogramm sehr ernst. Er hatte jedes Mal seinen Ellipsentrainer im Airbus dabei.
Wei verschwand und kehrte eine Minute später mit einer Sporttasche zurück, die Lis Trainingskleidung enthielt. »Der Wind ist mit uns, General. Es wird ein ruhiger Flug.«
Li kleidete sich im großen Prunkgemach schweigend und allein um. Einige der anderen Mitglieder des Ständigen Ausschusses ließen sich von Kammerdienern ankleiden. Li war der bürgerlichen Dekadenz nicht so weit verfallen, oder zumindest noch nicht. Auch wenn er sich eingestehen musste, dass er sich schon an beträchtlichen Luxus gewöhnt
hatte. Er besaß Chauffeure, Wächter und Haushälter. Dennoch versuchte er, sich immer daran zu erinnern, dass er dem Volk diente, und nicht andersherum. Im Gegensatz zu anderen Führern hatte er seine Position nicht dazu verwendet, durch Bestechung und Korruptionsgeschäfte ein Vermögen anzuhäufen. Er besaß weder geheime Bankkonten noch Villen in Hongkong.
Während der nächsten halben Stunde vergaß Li auf dem Trainingsgerät alles andere. Als er fertig war, dehnte er sich, duschte und kehrte an seinen Sitzplatz zurück, wo ihn ein Glas frisch gepresster Orangensaft erwartete. Sun Wei kannte das Lieblingsgetränk aller, die das Privileg genossen, regelmäßig Passagier in dieser Maschine zu sein.
Li nippte an seinem Saft und rieb sich die Augen. Wie immer war er froh, wieder von Mahmud Ahmadinedschad befreit zu sein. Der iranische Präsident war ein
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