John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
schlanker Mann mit harten, schwarzen, fanatischen Augen. Bei ihrem ersten Zusammentreffen vor einem Jahr hatte Ahmadinedschad Li eine Moralpredigt über die USA und Israel gehalten, die ewige Feinde der Muslime seien. Die Worte strömten so schnell aus seinem Mund, dass Lis Übersetzer größte Mühe hatte mitzukommen. Obwohl die Iraner den Präsidentenpalast kühl hielten, lief Ahmadinedschad der Schweiß über das Gesicht, während er seine Stimme erhob.
Eine halbe Stunde lang saß Li mit im Schoß gefalteten Händen Ahmadinedschad gegenüber und wartete geduldig, dass sich der Mann selbst erschöpfen möge. Er war es gewöhnt, langweilige Ansprachen über sich ergehen zu lassen, auch wenn sie üblicherweise in seiner eigenen Sprache erfolgten. Die Worte, die aus dem Mund des Iraners kamen, waren ein Strom von Unsinn. Er schien zu Tausenden Zuhörern
zu sprechen, die nur er sehen konnte. Schließlich unterbrach ihn Li.
»Herr Präsident«, sagte er erst auf Chinesisch und anschließend auf Englisch. »Mr. President.«
Doch auch dann hörte Ahmadinedschad nicht sofort auf zu sprechen. Mit blitzenden Augen richtete er sich in seinem Stuhl hoch auf und fuhr mit erhobenem Zeigefinger fort, wobei seine dürren Handgelenke aus dem Anzug stachen.
»Das chinesische Volk«, warf Li ein, »anerkennt Ihre Klagen über den weltweiten Hegemon« – die USA. »Wir stimmen darin überein, dass jeder Staat das Recht hat, sich selbst zu regieren.«
»Ja, ja. Aber das Problem liegt tiefer. Die Zionisten …«
Li hatte nicht die Absicht, einen weiteren Wortschwall über sich ergehen zu lassen. »Und ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft. Aber ich muss bereits morgen wieder nach Peking zurückkehren, und wir haben noch viel zu besprechen.«
Ahmadinedschad schien vergessen zu haben, dass Li ein Abgesandter eines mächtigeren Landes war als sein eigenes, kein Rivale, den man schikanieren konnte. »General, bevor wir fortfahren, müssen Sie verstehen …« Aber Li fand nie heraus, was er verstehen musste, denn ehe Ahmadinedschad weitersprechen konnte, flüsterte ihm der glatt rasierte Mann an seiner Seite etwas ins Ohr.
Der Mann war Said Mousavi, der Chef der iranischen Geheimpolizei. Und was auch immer er sagte, seine Worte zeigten Wirkung. Ahmadinedschad strich sich mit der Hand über den groben schwarzen Bart und flüsterte nun seinerseits dem Sicherheitsminister etwas zu. Von da an verliefen seine Gespräche mit Li vorwiegend geschäftsmäßig,
auch wenn sich Ahmadinedschad gelegentlich über zionistische Verschwörungen aufregte. Gegen Ende des zweiten Treffens erkannte Li, dass der Iraner subtiler war, als er erschien. Seine leeren Ansprachen dienten vor allem als Ablenkungsmanöver, um seine wahren Ziele ebenso zu verbergen wie die des Iran.
Hätten Außenseiter über diese Treffen Bescheid gewusst, so hätten sie wohl angenommen, dass China die Oberhand habe. Dennoch flog Li nach Teheran und nicht Ahmadinedschad nach Peking. Die Männer, die den Iran regierten, betrachteten diesen Eifer als Zeichen für Chinas Schwäche. Und Li hatte nicht die Absicht, ihre Meinung zu ändern. Er hatte eigene Gründe, um diese Treffen in Teheran abzuhalten und nicht in Peking. Auf diese Weise wussten nur er und seine engsten Mitarbeiter, was genau er mit Ahmadinedschad besprach. Selbstverständlich erstattete er seinen Ministerkollegen im Ständigen Ausschuss des Politbüros nach jedem Zusammentreffen Bericht. Aber er berichtete nicht über alles.
Für den Bau einer Bombe benötigten die Iraner technische Hilfe, und zwar im großen Rahmen. Selbst einem eigenständigen Land mit einem Budget von mehreren Milliarden Dollar fiel es schwerer, eine Atombombe zu bauen, als es aussah.
Nuklearwaffen sind gleichzeitig kompliziert und überaus einfach. Konventionelle Sprengstoffe beziehen ihre Energie aus dem Auseinanderbrechen chemischer Verbindungen, die die Atome in den Molekülen zusammenhalten. Atombomben geben Energie frei, die im Inneren einzelner Atome gebunden ist. Somit ist dies eine wesentlich mächtigere Kraftquelle. Eine kleine Atombombe besitzt eine tausendfach stärkere Zerstörungskraft als die größte konventionelle
Bombe. Die Unterschiede sind atemberaubend. Der »Dicke Mann«, jene Atombombe, die die USA 1945 über Nagasaki abwarfen, erzeugte mit vierzehn Pfund Plutonium eine Explosion, die der Energiefreisetzung von zweiundvierzig Millionen Pfund konventionellen Sprengstoffs entsprach. Die Bombe verdampfte das Zentrum
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