John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
überhäuften Couchtisch schnippte und das Feuerzeug mit geübter Hand aufflammen ließ. Als der Rauch seine Lungen füllte, schloss er zufrieden die Augen. Eine hässliche Angewohnheit, aber was soll’s? Jeder starb irgendwann einmal. Während er den Rauch durch die Nase ausstieß, fühlte er, wie seine Nasenlöcher kribbelten.
Er war stämmig, aber fest gebaut, mittleren Alters, etwas unter einen Meter achtzig groß, hatte schütter werdendes graues Haar und ein leicht schwammiges Gesicht, das man gleich wieder vergaß. Es war das Gesicht eines Managers, der nie Vizepräsident werden würde. Die Zigaretten und der Whiskey waren dabei auch keine Hilfe. Seine Augen waren das einzige außergewöhnliche Merkmal an ihm: das rechte war braun und das linke grün mit einem auffälligen schwarzen Streifen, der quer durch die Iris verlief. Dieser Makel war rein kosmetisch und beeinträchtigte in keiner Weise sein Sehvermögen.
Er war ein Maulwurf, ein Doppelagent. Seit sieben Jahren verkaufte er nun schon Geheimnisse an China. Das war
Hochverrat und wurde mit lebenslanger Haft oder dem Tod bestraft.
Er sah sich in dem fensterlosen Kellerraum um. Ein schmutzig weißer Wollteppich bedeckte den Boden. Die Wände waren mit einer billigen Holzimitation verkleidet und mit gerahmten Fotos behängt, die er vor Jahrzehnten in Hongkong aufgenommen hatte. Während seines einzigen Auslandeinsatzes. Eine Softball-Trophäe der Reston-Sommerliga thronte auf seinem Schreibtisch.
Er behielt den Pokal als ironischen Scherz. Aber welchen Sinn hatte ein Scherz, den niemand sah? Alle, die ihn kannten – seine Kollegen, seine Nachbarn und sogar die Mexikaner, die seinen Acura reinigten -, hielten ihn für einen Verlierer der Sonderklasse. Den einzigen interessanten Teil seines Lebens musste er verbergen. Das war tragisch. Er war eine tragische Figur. Während er die Zigarette rauchte, erfüllte ihn mit dem Rauch etwas wie Stolz. Eine tragische Figur, aber auch ein Held. Er hatte die Regeln der Gesellschaft gebrochen, lebte abseits der Masse. Er wusste, welches Risiko er einging, und er …
»Eddie!«
Wo hatte seine Frau gelernt, so zu kreischen? Er ignorierte sie und griff nach dem Umschlag in seiner grünen Windjacke, nach dem Brief, den er an diesem Morgen abgeholt hatte. Das Papier darin war sorgfältig gefaltet. Ein einziges Blatt, das mit der übergroßen Arial-Schrift bedruckt war, die die Chinesen immer verwendeten.
»Lieber Mr T.« – er lächelte immer bei dieser Anrede – »wie immer wissen wir Ihre Arbeit hoch zu schätzen. Sie sind wahrlich unser wertvollstes Gut. Für Ihre Dienste ist auf Ihrem Konto eine Bonuszahlung für drei Monate eingelangt. Wir bitten Sie, auch dieses Geschenk anzunehmen.«
Auch wenn das Englisch nicht ganz perfekt war, verstand er, was sie sagen wollten. Sie waren zufrieden. Auf dem Papier klebte ein goldener Krügerrand. Ein netter Zug, dachte der Maulwurf. Sie hatten ihm noch nie zuvor Gold geschenkt. Er ließ sein Schweizer Armeemesser aufschnappen und schnitt die Münze von dem Papier. Der Springbock, der auf ihre Rückseite geprägt war, schimmerte sogar in der rauchgeschwängerten Luft des Kellers. Die Münze wirkte dicht genug, um eine Kugel abzufangen. Er wirbelte sie in die Luft und fing sie sauber wieder auf. Und ein Dreimonatsbonus? Das waren fünfundsiebzig Riesen extra.
»Eddie! Der Braten wird kalt!«
Janice. Immer zerstörte sie seine Freude.
»Um Himmels willen, hör auf zu kreischen!«, brüllte er die Treppe hinauf.
Nachdem er die Münze in die Tasche gesteckt hatte, kehrte er zu dem Brief zurück. Der Rest war Routine, bis auf das Ende: »Angesichts der jüngsten Ereignisse erfordert es die Umsicht, dass wir die Marco-Box augenblicklich Stilllegen« – warum sie dieses Wort groß geschrieben hatten, war ihm unklar.
Die Marco-Box war ein Briefkasten auf der Moncure Avenue, unmittelbar bei der Kreuzung mit der Columbia Pike, den er und die Chinesen als Signalstelle verwendet hatten. Ein vertikaler Kreidestrich bedeutete, dass er Dokumente oder einen Flash-Speicher im toten Briefkasten im Wakefield Park hinterlegen würde. Zwei horizontale Striche bedeuteten, dass sie die Papiere abgeholt hatten. Ein diagonaler gelber Stich bedeutete, dass entweder er oder sie dringend ein persönliches Gespräch benötigten, und ein roter Strich bedeutete einen Notfall mit einem Treffen noch am selben Tag.
»Bitte verwenden Sie von nun an die Tango-Box«, hieß es weiter im Brief. »Alle
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