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John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes

John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes

Titel: John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Berenson
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erlebt, dass selbst der Zweite Weltkrieg dagegen harmlos wirkte. Eine Invasion durch Japan. Ein langer, blutiger Bürgerkrieg. Der katastrophale große Sprung nach vorn, der zu einer Hungersnot führte, die zig Millionen Chinesen das Leben kostete. Die Kulturrevolution. Die Chinesen waren nicht bereit für weiteren Aufruhr, nicht so bald. Sie protestierten kaum, als die Männer des Zhongnanhai am vierten Juni 1989 Panzer auffahren ließen, um den Tiananmen-Platz zu räumen. An diesem Tag wurden in Peking Hunderte Protestierende getötet. Volksbefreiungsarmee? Am vierten Juni traf nur der letzte Teil des Namens zu.
    Die Führer der kommunistischen Partei Chinas gestanden nie ein, was sie am Tiananmen-Platz getan hatten. Stattdessen boten sie dem Volk einen unausgesprochenen Handel an. Fordert uns nicht heraus, dann gestatten wir euch, diese sozialistische Farce zu beenden. »Reich zu werden ist keine Schande«, lautete der berühmte Ausspruch von Deng Xiaoping, dem obersten Führer Chinas zu dieser Zeit. »Egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache, sie fängt
Mäuse.« Heute behaupten einige, dass diese Worte Deng nie über die Lippen gekommen seien, aber von der Stimmung her trafen sie zu.
    Zwei Jahrzehnte lang hatten sich die Herrschenden und die Beherrschten an diesen Deal gehalten, und China hatte das größte Wirtschaftswunder der Geschichte zustande gebracht. In den Achtzigerjahren war es ein Drittweltland und noch ärmer als Indien. Mittlerweile war es die drittstärkste Wirtschaft der Welt, nur geschlagen von den USA und Japan.
    Und dennoch … Unter der glänzenden Oberfläche hatte die chinesische Wirtschaft einen gefährlichen Kipppunkt erreicht, dachte Li. Der Boom hatte Millionen Chinesen einen bescheidenen Lebensstandard erlaubt. Aber er hatte noch mehr Millionen Menschen im Staub zurückgelassen.
    Li nahm einen Schluck Wein. Es war der samtigste Wein, den er je gekostet hatte – für zehntausend Yuan pro Flasche. Sein Vater Hu hatte in einer Reifenfabrik gearbeitet, bis sein Herz an seinem zweiundfünfzigsten Geburtstag aufgab. Hu hatte in seinem gesamten Leben keine zehntausend Yuan verdient. Er hatte weder einen Fernsehapparat noch einen Kühlschrank und nicht einmal ein Telefon besessen. Jahrelang hatte er auf seinen wichtigsten Besitz gespart, ein Flying-Pigeon-Fahrrad. Die Stahlbestie besaß nur einen einzigen Gang und wog beinahe fünfundzwanzig Kilo.
    Dennoch erinnerte sich Li nicht daran, dass sich seine Eltern je beschwert hätten. Sie fühlten sich nie arm, weil sie niemanden kannten, dem es besser ging. Außerdem brauchten sie fast kein Geld. Von der Reifenfabrik hatten sie ein Zweizimmerapartment mit Gemeinschaftsbad erhalten. Auch wenn sie nicht viel besaßen, war ihr Leben sicher. Sie mussten nie fürchten, dass Hu entlassen oder die Fabrik geschlossen würde. So etwas geschah einfach nicht.

    Heute wurden ständig Fabriken geschlossen. Bauunternehmen rissen die verwinkelten Pekinger Viertel mit ihren unzähligen Gassen, die man Hutongs nannte, nieder, um in der gigantischen Stadt neue Apartmenthäuser zu bauen. Die Wohntürme waren sauberer als die Hutongs. Aber die Hutong-Familien hatten keine Chance, in diesen neuen Gebäuden zu leben. Sie wurden in Schuppen am Rand der Stadt verfrachtet, außerhalb des Fünften Rings, wo die Reichen der Hauptstadt sie nicht sehen würden.
    Heute wussten Männer wie Lis Vater, dass sie arm waren. Sie konnten sich weder die Üppigkeit dieses Raums noch die der Privatklubs von Peking vorstellen, in denen sich die Reichen trafen. Aber sie wussten, dass China sie abgehängt hatte. Immer weniger waren bereit, ihr Schicksal zu akzeptieren. In ganz China begann es allmählich zu kochen. Im Südwesten Chinas hatten Bauern wegen der Beschlagnahme von Ländereien Polizeiwachen angegriffen. Im Norden Chinas hatten sich Kohlebergarbeiter erhoben und bessere Sicherheitsvorkehrungen gefordert, nachdem bei einer Explosion in einem Bergwerk in Hebei einhundertachtzig Männer umgekommen waren.
    Zudem boomte die Wirtschaft nicht mehr. Bisher war es der Regierung gelungen, das sinkende Wirtschaftswachstum vor der Außenwelt zu verbergen. Aber Li kannte die echten Zahlen. Das Wachstum hatte sich von Monat zu Monat verringert, von zehn Prozent auf acht, dann fünf und nun nur noch drei Prozent. Und niemand, nicht einmal der Wirtschaftsminister oder der Direktor der Zentralbank konnte erklären, was geschah – zumindest nicht in Worten, die für Li einen Sinn

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