John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
Jahre hatte er die Sache überdacht. Strategisch betrachtet, hatte man die Vietnamesen durch diesen Krieg auf den ihnen zustehenden Platz verwiesen. Danach behandelten sie China mit mehr
Respekt. Auch wenn man Kriege vermeiden sollte, waren sie mitunter notwendig, dachte er.
Auch für ihn wurde der Krieg zum Erfolg. Die drohende Niederlage in Vietnam hatte die Volksbefreiungsarmee so weit eingeschüchtert, dass sie davon absah, ihr Offizierskorps zu professionalisieren. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wurde kampftechnisches Können und nicht ideologische Reinheit zum wichtigsten Faktor für eine Beförderung. Dieser Wandel half Li. Seine Fähigkeiten hatten sich vom ersten Tag der Vietnaminvasion an deutlich gezeigt. Intuitiv wusste er, wie er seine Soldaten positionieren musste, wann er das Feuer konzentrieren und wann streuen musste. Er schlug andere Kommandeure bei den Kriegsspielen an der National Defense University und stieg rasch auf. 2004 wurde er Stabschef und zwei Jahre später zum Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber der Armee ernannt.
Selbstverständlich gab es auch für Fähigkeiten eine Grenze. Hätten die anderen Mitglieder des Ständigen Ausschusses an Lis Loyalität gezweifelt, wäre er nie Minister geworden. Aber sie hatten keine Zweifel. Für sie war Li der höchste Soldat, der immer den Befehlen gehorchte. In Wirklichkeit war es den Parteiführern egal, ob Li an den »Sozialismus mit menschlichen Zügen« glaubte, solange er nur die richtigen Worte aussprach. Sie glaubten gewiss nicht daran. Wer in China reich und mächtig war, gehörte der Partei an. So zitierten die Parteiführer gewissenhaft die »Acht Gebote und Verbote« – »Wisse einfach zu leben und hart zu arbeiten und suhle dich nicht in Luxus« – und fuhren dann in Limousinen in ihre Herrenhäuser. Diese Aussprüche entsprachen dem geheimen Handschlag einer Brüderschaft. Sie selbst bedeuteten nichts, aber wer sie kannte, dem öffneten sie die Türen.
Li zog es vor, unterschätzt zu werden. Obwohl er dem Ständigen Ausschuss angehörte, betrachteten ihn die anderen nicht als politische Bedrohung. Immerhin hatte er es nicht einmal zuwege gebracht, in seiner Position Reichtum zu erringen. Abgesehen von »Old Bull« hatten die Liberalen – jene Mitglieder der Elite, die vom neuen China am meisten profitiert hatten – noch einen anderen Spitznamen für Li. Sie nannten ihn »Wachhund«, wenn sie es auch nie gewagt hätten, ihm dies offen ins Gesicht zu sagen.
Aber die Liberalen missverstanden Li. Er war gieriger als sie alle, nur nicht auf Geld. Li wollte sich als größter Führer aller Zeiten beweisen, als Retter der chinesischen Nation, der für alle Zeiten wegen seines Mutes in Erinnerung blieb. In seinen Träumen lag er Seite an Seite mit Mao in dessen massiver Krypta auf dem Tiananmen-Platz. Tag für Tag stellten sich Tausende Chinesen in einer langen Schlange an, um einen Blick auf seinen Leichnam zu werfen. Sie zogen ehrfurchtsvoll vorüber, erfüllt von dem Wunsch, ihn zurückholen zu können. Die Reihen wurden länger und länger, bis die Menge den Tiananmen-Platz füllte und sich in die Straßen Pekings ergoss. Aber die Leute waren so begierig, ihn zu sehen, dass sich niemand beschwerte.
Wenn Li erwachte, erinnerte er sich nicht mehr an seine Träume. Bei vollem Bewusstsein erkannte er nicht, wie sehr er nach Ruhm dürstete. Er verstand seine Motive nicht, und das machte ihn wahrlich gefährlich.
Während er an seinem üblichen Platz, zwei Stühle entfernt vom Kopf der Tafel, saß, hob Li sein Bleikristallglas und betrachtete die burgunderrote Flüssigkeit darin. Ein Châteu Lafitte’92 um zehtausend Yuan oder eintausenddreihundert Dollar pro Flasche. Die Männer rund um ihn hatten an
diesem Abend bereits eine halbe Kiste davon geleert und waren davon überzeugt, diesen Wein auch zu verdienen.
Im Mai 1989 hatten Hunderttausende Studenten den Tiananmen-Platz gefüllt – die riesige offene Fläche kaum eineinhalb Kilometer von hier entfernt, das spirituelle Herz von ganz China – und Demokratie gefordert. Die westlichen Reporter, die über diese Proteste berichteten, hatten diese Zeit als Pekinger Frühling bezeichnet. Einige Wochen lang sah es so aus, als würde China von der Diktatur zur Freiheit wechseln. Immerhin waren auf der anderen Seite der Welt kommunistische Regime friedlich gefallen.
Aber China war nicht die DDR oder Polen. China hatte ein ganzes Jahrhundert eines so schrecklichen Umbruchs
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