John Wells Bd. 3 - Stille des Todes
verschwinden. Dann hievte er sich aus seinem Stuhl und verließ den Bahnhof.
Ein winterlicher Wind fegte von der Nordsee über die Elbe und ließ die sonnenlose Stadt frösteln. Nur in den hell erleuchteten Geschäften der Mönckebergstraße drängten sich die Kauflustigen, die den Schlussverkauf nutzen wollten.
Das Hyatt lag nur wenige hundert Meter vom Bahnhof entfernt. Wieder stellte Wells erfreut fest, wie effizient der Kurier gearbeitet hatte. Zimmer 402 war eine Suite am Ende eines kurzen Ganges. Der Raum war leer, bis auf einen schwarzen Lederaktenkoffer auf dem Doppelbett. Wells stellte die Schlösser auf die Zahl 2004 - das Jahr, in dem seine geliebten Red Sox nach sechsundachtzig Jahren
Baseballelend die World Series gewonnen hatten - und klappte den Koffer auf.
Darin lagen zwei braune Umschläge. Der erste enthielt seine neuen Dokumente: einen irischen Pass, einen britischen Führerschein und Kreditkarten. Alles auf den Namen Roland Albert.
»Roland Albert«, sagte Wells in den leeren Raum hinein. »Roland Albert. Albert Roland? Roland Albert?«
Er wünschte, er hätte sich einen besseren Namen einfallen lassen. Das Geburtsdatum in Führerschein und Pass war sein eigenes, damit er es sich leichter merken konnte. Eine nette Geste. Wells vergewisserte sich, dass er die Londoner Adresse auswendig konnte, bevor er seinen echten Pass und seine Kreditkarten gegen die gefälschten Dokumente austauschte.
Der zweite Umschlag enthielt ein zweiseitiges Dossier von Shafer über ihre Zielperson. Wells überflog es zweimal, fand aber kaum etwas von Interesse - bis auf den echten Namen des Mannes: Bassim. Er warf beide Umschläge zurück in den Aktenkoffer, schloss ihn ab und ließ ihn für den namenlosen Kurier auf dem Bett stehen. Dann ging er zum Kempinski Hotel hinter dem Bahnhof und checkte als Roland Albert ein, um sicherzugehen, dass seine Identität funktionierte.
Das Rathaus nahm die Südseite eines Platzes ganz in der Nähe der Binnenalster ein. Wie der Bahnhof war auch das Rathaus ein breites Gebäude mit einem Uhrturm in der Mitte, ein Monument des Reichtums der Stadt. Wells, der auf Bernhards Anweisung eine FC-Bayern-München-Mütze trug, wartete neben der hölzernen Eingangstür.
Es wurde achtzehn Uhr, dann 18.15 Uhr. Wells steckte die Hände unter die Arme, um sie zu wärmen, und sah den vorübereilenden Kauflustigen und Pendlern zu. Das ganze Arrangement stank nach Dilettantismus. Wells kannte Bernhards Namen, also hätten sie sich auch gleich am Lagerhaus treffen können. Aber wenn Bernhard Wert auf diese sinnlosen Vorsichtsmaßnahmen legte, wollte er ihm nicht widersprechen.
Eine Frau mit blond gefärbtem Haar bog um die Ecke, ein kleiner Kobold in verblichenen Jeans. Ihre kurzen, schnellen Trippelschritte erinnerten Wells so sehr an Exley, dass er für einen Augenblick dachte, sie hätte ihn irgendwie aufgespürt. In seinem Bauch kribbelte es.
Aber Exley war in Washington in der Rehaklinik und hatte keine Ahnung, wo er sich aufhielt. Und als der Kobold näherkam, sah Wells, dass die Frau jünger war als Exley und braune, nicht blaue Augen hatte. Sie hatte seinen Blick bemerkt und lächelte zögernd, fast kokett. Er sah ihr nach, bis sie verschwunden war, und dachte an den Text eines alten Songs der Gruppe Gin Blossoms. You can’t call it cheatin’, ‘cause she reminds me of you … Wenn die andere Frau Jennifer ähnelte, war es demnach kein Betrug.
Ein Mann kam über den Platz auf Wells zu, ein junger Türke, vielleicht Anfang zwanzig. Unter seiner Winterkleidung war er dünn, und für einen Türken wirkte er blass, irgendwie verblichen. Drei Schritte vor Wells blieb er stehen und legte den Kopf zur Seite. Er trug eine Brille mit betont dickem Gestell und sah aus wie ein Programmierer oder Webdesigner. Wells konnte sich nicht vorstellen, dass dieses Bürschchen Geschäfte mit nigerianischen Generälen tätigte und eine Atombombe baute. Außerdem war Bernhard Shafers Dossier zufolge viel älter.
»Sie sind Roland«, sagte er auf Englisch mit starkem deutschem Akzent.
»Bernhard?«
»Mein Name ist Helmut«, erwiderte der Junge mit affektierter Überheblichkeit.
»Helmut wer?«
»Keine Fragen. Kommen Sie.« Der Junge wollte sich tough geben, aber dann war seine deutsche Erziehung doch stärker. »Bitte.«
Wells ging hinter ihm am Alsterfleet entlang, einem schmalen Kanal, der die Binnenalster mit der Elbe verband. An einem hohen Transporter, einem weißen Sprinter, blieben sie
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