John Wells Bd. 3 - Stille des Todes
geschützt waren.
Mit Druckwelle und Feuerball kam die Strahlung. Die Spaltung der Uranatome setzte Gammastrahlen frei, Teilchen mit hoher Energie, die wie winzige Kugeln im Körper umhersausten, Zellen zerstörten und DNA beschädigten.
Die Strahlen griffen den gesamten Körper an. Besonders schädlich waren sie jedoch für Weichteile und Knochenmark. Opfer, die einer besonders hohen Dosis ausgesetzt gewesen waren, litten an akuter Strahlenkrankheit und verbluteten durch die Haut. Anderen war in den ersten Wochen nach der Explosion nichts anzusehen. Dann fielen ihnen die Haare aus, die Haut löste sich vom Körper wie bei einer sich häutenden Schlange, der Magen verwandelte sich in eine blutende Kloake. Da sie weder essen noch trinken konnten, verhungerten und verdursteten die Betroffenen. Und selbst mit relativ geringen Dosen Verstrahlte starben noch Jahre später an Leukämie und Lymphomen.
Baschir hatte keine Angst vor blutigen Eingeweiden und gebrochenen Knochen, Stichwunden und verbranntem Fleisch. In seinen sieben Jahren als Chirurg hatte er alle Arten von Schrecken gesehen. Einen alten Mann, dessen Brille mit dem Gesicht verschmolzen war, weil er sich ein paar Dollar hatte sparen wollen, indem er seinen Heißwasserboiler selbst reparierte, anstatt einen Techniker zu bezahlen. Einen Motorradfahrer, dem ein Geländewagen beide Beine und das Becken zermalmt hatte. Am schlimmsten war ein Elfjähriger gewesen, der bei einer Grillparty am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, vom Dach seines Elternhauses in einen schmiedeeisernen Zaun gefallen war, dessen Spitzen sich in Magen und Brust gebohrt hatten. Da Feuerwehr und Sanitäter fürchteten, dass er ihnen verblutete, wenn sie die Spieße herauszogen, schnitten sie den Zaun durch und brachten ihn mit dem Kind ins Krankenhaus. Baschir wusste noch, dass der Junge ein Transformers-T-Shirt getragen hatte, das mit dem Eisen in seinem Körper aussah
wie ein missglückter Gag. Die Sanitäter hatten ihm keine Schmerzmittel geben wollen, weil sie einen Schock fürchteten. Als er im Operationssaal eintraf, war er zu verängstigt, um zu sprechen. Vielleicht waren auch die Schmerzen zu stark. Er nickte nur, als Baschir ihm sagte, sie würden ihm helfen, aber sie müssten ihn festhalten, um die Eisenspitzen zu entfernen. Sie hatten ihm einen Mundschutz für Zunge und Zähne gegeben und angefangen zu ziehen. Aber das Eisen in seinem Unterleib saß tiefer, als sie gedacht hatten, und hatte sich in den Muskel hinter dem Magen gebohrt. Der Junge schrie, bis sich seine Augen verdrehten und er das Bewusstsein verlor. In seinen Mundwinkeln stand Schaum. Das Kind hatte überlebt, aber die Schreie würde Baschir sein Leben lang nicht vergessen. Und er konnte sich noch genau an die halb verdauten Maiskörner auf den Zinken des Eisenzauns erinnern, als sie den Jungen endlich davon befreit hatten.
In seinen Jahren als Chirurg hatte er einige Leben gerettet, doch die Bombe würde das Gute, das er getan hatte, tausendfach zunichtemachen. Hunderttausende Menschen würden sterben, die visionären poetischen Albträume der Apokalypse würden wahr werden. Nur dass diese Hölle nicht nur in den Texten von Koran und Bibel existierte. Dieses aus ein paar Teilen Uran und Stahl zusammengeschusterte Ungeheuer war real. Auch wenn sie in einem einhundert Jahre alten Stall arbeiteten, nicht in einem von Wachen und Stacheldraht umgebenen Labor. Die physikalischen Grundsätze einer nuklearen Explosion waren hier dieselben wie in Los Alamos. Sie brauchten weder Sicherheitsposten noch Tausende von Ingenieuren und Wissenschaftlern. Und auch kein Milliardenbudget.
Wenn sie über ausreichend Uran verfügten und es schnell genug zu einer kritischen Masse zusammenfügten, würde es zur Atomexplosion kommen. Punkt.
Hiroshima und Nagasaki hatten weltweit solches Entsetzen ausgelöst, dass sich die Völker seit zwei Generationen zusammentaten, um eine weitere Kernexplosion zu verhindern. Zwar waren Zehntausende von Bomben gebaut worden, aber sie sollten nie wieder eingesetzt werden, nicht gegen Zivilisten, ja, noch nicht einmal gegen feindliche Armeen. Nicht von den Amerikanern, nicht von den Russen, Indern oder Pakistanern. Noch nicht einmal von den Juden. Sie alle hatten den Geist in der Flasche gelassen.
Jetzt wollten Baschir, Nasiji und Jussuf und ein paar andere Männer, deren Namen er noch nicht einmal kannte, das Tabu brechen. Wer waren diese Menschen, die die Weisheit der Welt missachteten?
Weitere Kostenlose Bücher