John Wells Bd. 3 - Stille des Todes
In zwei Monaten, wenn die Decatur diese Fahrt beendet hatte, würde er aus dem Dienst ausscheiden. In Ehren, bei vollen Pensionsbezügen.
Er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Der Namensgeber der Decatur, Stephen Decatur, war erhobenen Hauptes gestorben: 1820 in einem Duell, eine Geschichte, die Williams gern erzählte. Aber Duelle waren politisch nicht mehr korrekt. Wahrscheinlich würde er in seine Heimatstadt Dallas zurückgehen und die Nachmittage mit Golfspielen totschlagen. Oder er würde als Berater für irgendeinen Rüstungslieferanten arbeiten. In beiden Fällen konnte er nur auf einen raschen Herztod hoffen.
War er verbittert? Seine Vorgesetzten hatten ihn in eine nahezu ausweglose Position gebracht und ihn dann dafür bestraft, dass er keinen Ausweg fand. Zum Dank für lebenslange treue Dienste war er ausrangiert worden wie eine verrostete Schiffsschraube. Natürlich sah er auch die andere Seite. Die Navy hatte genügend Kommandanten mit blütenweißer Weste. Da gab es keinen Grund, sich aus dem Fenster zu lehnen, um jemanden zu befördern, der mit einem solchen Makel behaftet war wie er. Und keiner wollte die Chinesen verärgern. Beide Länder taten so, als hätte der Schlagabtausch vom Sommer überhaupt nicht stattgefunden, und das sollte auch so bleiben.
Aber in der Zwischenzeit befehligte Williams immer
noch die Decatur , und er hatte nicht die Absicht, bis zum Ruhestand die Zügel schleifen zu lassen. Auf seinem Schiff hatte immer Ordnung geherrscht. Jetzt griff er härter durch denn je. Er wusste, dass Offiziere und Besatzung darüber nicht glücklich waren, aber das war ihm egal. Was er verlangte, blieb stets im Rahmen der Vorschriften, doch er wollte, dass diese buchstabengenau befolgt wurden. Wenn die Bestimmungen besagten, dass die Offiziere erst essen durften, wenn der Kapitän eingetroffen war, und dass die Matrosen keine Pornohefte haben durften, noch nicht einmal in ihren persönlichen Spinden, sollten sich die Leute gefälligst an die Regeln halten. Was wollen sie tun, mich feuern?
Ja, er war verbittert. Aber das konnte man ihm nicht verdenken, fand er.
Die Order kam um Mitternacht Ortszeit, in einer heißen, trockenen Nacht weit draußen auf dem Atlantik, ganz in der Nähe des Äquators, etwas dichter an Westafrika als an Brasilien. Die Decatur sollte Kurs nach Nordosten nehmen, auf die Gewässer vor der Küste von Sierra Leone und Liberia, unmittelbar außerhalb der Schifffahrtsrouten zwischen Europa und Westafrika.
Dort sollten Williams und seine Besatzung nach einem Frachter Ausschau halten, der auf der Fahrt von Hamburg nach Lagos verschwunden war. Jemand war davon überzeugt, dass sich an Bord dieses Schiffes, der Juno , mehr als ein paar Esslöffel S-N-M - Sondernuklearmaterial - befanden. Die gesamte Atlantikflotte und alle NSA-Satelliten waren auf der Suche.
Sobald die Order eingetroffen war, hob sich Williams’ Stimmung, was der Mannschaft eine Atempause verschaffte.
Man musste kein Psychologe sein, um herauszufinden, wieso. Zum ersten Mal seit Shanghai hatte die Decatur eine Mission. Die Navy vertraute ihm also noch ein wenig. Und so gab Williams Befehl, die vier mächtigen Gasturbinen der Decatur mit voller Kraft laufen zu lassen, wendete das Schiff und fuhr mit fünfundzwanzig Knoten nach Osten. Am nächsten Tag gegen Mittag erreichten sie ihre neue Position. Die Sonne brannte erbarmungslos auf sie herab, das Meer war ruhig, und es regte sich kein Lüftchen. Außerhalb der Hurrikansaison gab es in diesem Teil des Atlantiks eigentlich kein Wetter. Herbst, Winter und Frühling waren gleich, eine endlose Folge heißer, trockener Tage.
Er musste nicht lange auf weitere Befehle warten. Zweimal in zwei Tagen wurde er angewiesen, Schiffe zu überprüfen, die den NSA-Satelliten aufgefallen waren. Jedes Mal ließ er den SH-60B Seahawk der Decatur aufsteigen, obwohl er sicher war, dass sich die NSA getäuscht hatte. Im ersten Fall schien ihm das Ziel zu breit, um die Juno sein zu können, im zweiten zu hoch.
Als der Helikopter zum zweiten Mal erfolglos zurückkehrte, beschloss Williams, den nächsten Befehl nicht mehr abzuwarten. Die NSA mochte Satelliten haben, aber von Schiffen verstanden diese Leute nichts. Sein Bauch sagte ihm, dass sie die Juno in der Nähe von Westafrika vergeblich suchen würden. Was hätte das Schiff hier zu suchen gehabt? Wenn es die ursprünglich im Schiffsmanifest angegebene Route eingehalten hätte, hätte es schon vor Wochen in Lagos
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