JoJo Und Ich
Flucht.
»Oje, die sind aber wirklich tief«, seufzte ich angesichts der langen klaffenden Wunden. Er ließ mich ganz genau hinsehen. Die tiefen Schnitte öffneten und schlossen sich mit jedem Flossenschlag, ja sogar durch die bloße Bewegung des Wassers. Erleichtert stellte ich fest, dass wenigstens keine Sehnen verletzt waren oder sonstige schwer zu versorgende Teile seines Körpers. Es handelte sich um reine Fleischwunden, die heilen und ihn später nicht weiter beeinträchtigen würden.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass wir eine für beide akzeptable Möglichkeit des engen Kontakts gefunden hatten, die mich in die Lage versetzte, notwendige Untersuchungen und vielleicht sogar Behandlungen an ihm vorzunehmen.
Einen Augenblick lang fühlte ich mich in meine Kindheit in Kalifornien zurückversetzt und diente im Rahmen einer von meinen Eltern geleiteten wunderbaren Heilzeremonie als Gefäß beziehungsweise Übermittler heilender Energien. Wie ich damals vor einer mit Wasser gefüllten Schale gestanden hatte, um mich ausschließlich auf positive Kräfte zu konzentrieren und alles Negative an mir vorbei an den dafür vorgesehenen Ort im Universum ziehen zu lassen, so stand ich jetzt vor JoJo und visualisierte weißes Licht, das seine tiefen Schnittwunden verschloss.
Da JoJo so gefasst und aufnahmebereit wirkte, wollte ich seine Zuversicht stärken und noch ein bisschen mit ihm schwimmen, um ihm dabei positive Energien und Gedanken der Heilung zu schicken. Er nahm erneut meine Hand und zog mich zum ersten Bootsanleger, ungefähr fünfzig Schritte vom Strand entfernt.
Um ihn ein wenig von seinen Verletzungen abzulenken, hob ich ein Schneckengehäuse auf und warf es ihm zu. Ein paar Minuten lang spielten wir miteinander. Dann gab ich JoJo das Abschiedssignal und wollte ins Flachwasser schwimmen. Doch er legte sich sofort quer vor mich hin. Natürlich gab ich nach, und wir spielten das Ganze noch ein paar Mal durch: intensiver Blickkontakt, bei dem ich meine Heilgebete wiederholte, dazu JoJos Lautäußerungen und dann noch ein bisschen Schneckenschalenspiel.
Entscheidend war der direkte Blickkontakt. Je mehr und intensiver wir uns in die Augen schauten, desto besser wurde unser Verständnis füreinander, das so erstaunliche Dinge zwischen uns ermöglichte. Mir wurde klar, dass jeder körperlichen Annäherung ein direkter Blickkontakt vorausgehen musste.
Ich sagte: »Ich weiß, du hättest es jetzt lieber, wenn ich bei dir bleiben würde. Im Moment aber ist es überaus wichtig, dass ich endlich herausfinde, weshalb du dich immer wieder verletzt.« Ein letztes Mal warf ich das Schneckengehäuse, dann verabschiedete ich mich. Ich sprang in meinen Wagen und fuhr heim. Während der Fahrt dachte über die vielen Verletzungen nach, die sich JoJo im Laufe des vergangenen Jahres zugezogen hatte und die ja nicht nur körperliche, sondern auch seelische Spuren hinterließen. Ich wollte mit jemandem darüber sprechen und rief Emily an.
»Na ja«, sagte sie mit ihrer sanften Stimme, »seit dem Zusammenstoß mit dem Jetboot seinerzeit ist JoJo nicht mehr besonders gut auf solche Boote zu sprechen.«
»Ich weiß«, antwortete ich. »Er ist so aggressiv geworden, dass sich kaum noch einer zu fahren traut, wenn er in der Nähe ist.«
Ich musste allerdings zugeben, dass ich auch eine gewisse Bewunderung für die cleveren Taktiken empfand, mit denen JoJo selbst die besten Wasserskifahrern von den Brettern warf. Er lauerte unter dem Anleger. Da wurde er zwar immer von fünfzig Leuten auf dem Steg gefilmt, aber er tat einfach so, als wären sie gar nicht da. Und sobald die Skifahrer im Wasser das Kommando gaben und das Boot anzog, zuckte JoJo bereits mit der Schwanzflosse, wie eine Katze den Schwanz hin und her schnellen lässt, wenn sie ein Beutetier entdeckt.
Hatte das Boot genug Fahrt aufgenommen, um den Skifahrer aus dem Wasser zu heben, steuerte ihn JoJo von schräg hinten an und sprang dann so auf die Ski, dass sie dem Sportsfreund von den Füßen rutschten und er in einer großen Gischtwolke ins Wasser platschte. JoJo umrundete ihn dann noch einmal triumphierend und ging anschließend wieder unter dem Anleger in Lauerstellung.
Die Wasserskilehrer versuchten das Ganze ein bisschen weiter hinaus zu verlegen und dafür zwei Anfänger gleichzeitig starten zu lassen, aber es nützte nichts, JoJo fegte sie beide von ihren Brettern. Das wurde so schlimm, dass manchmal tagelang kein Einziger auch nur aus den Startlöchern kam. Für
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