Joli Rouge (German Edition)
1666
Weißer Küstennebel hüllte die bunten Häuser ein, die längs
am Ufer des dunklen Sees aufragten. Die acht Schiffe
näherten sich ihnen unheilvoll. Ihre dicken Bäuche hoben
sich anmaßend aus dem Wasser, und außer dem Gluckern der
Wellen und dem Schlagen der Ruder waren keinerlei Laute zu
vernehmen. Seit die Flibustier tags zuvor das Fort an der
Meerenge eingenommen hatten, war der Wind versiegt und sie
mussten sich durch die Nacht mit der Flut gen Maracaibo
treiben lassen. Noch stand der Mond am verblassenden
Nachthimmel, und vereinzelte Wolken nutzten die Gelegenheit,
sich zu sammeln, bevor die anschwellende Sonne sie wie jeden
Tag versengen würde.
Die Männer schwiegen. Anspannung hatte sich in ihren
Gesichtern festgesetzt. Stürmisches Wetter hatte die
Überfahrt nach Nueva Venezuela geprägt und die Truppe der
Flibustier fast auseinandergerissen. Doch die Kaperfahrt
stand augenscheinlich unter einem guten Stern, denn die
Schiffe trafen beinahe zeitgleich im Golf von Maracaibo ein,
wo sie verharrten bis die Nacht einsetzte. Daraufhin
segelten sie bis zu der Sandbank an der Meerenge und gingen
dort vor Anker. Michel Le Basque und Moïse Vauquelin begaben
sich mit ihren Mannschaften an Land, um das Fort zu
erstürmen. Schneller als erwartet schalteten sie die
wachhabenden Soldaten aus. Nur wenigen glückte die Flucht
und kein Einziger drang bis zur Festung durch, um die Männer
zu warnen. Auf diese Weise gelang den Flibustier ein
überraschender Angriff, und die spanischen Schützen waren
innerhalb von nur drei Stunden geschlagen. Nachdem die
Brüder ihre Flagge auf dem Fort gehisst hatten, verbrachten
sie den restlichen Tag damit, die Befestigungen
niederzureißen und abzubrennen, ihre Toten zu begraben und
Verwundete sowie erbeutete Kanonen auf die Schiffe zu
verladen. Anschließend brachen sie nach Maracaibo auf.
Jacquotte stand am Bug der
La Poudrière
und beobachtete
den nahen Küstenstreifen. Sie vernahm die meckernden Laute
der Ziegen, die auf der Isla Borica gehalten wurden, die sie
gerade passiert hatten, und roch das Ufer mit seinem
schlammigen Grund, der durch die Ebbe freigelegt wurde. Zum
ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder wohl in
ihrer Haut. François L’Olonnais befand sich auf seinem
erbeuteten Schiff, und sie konnte nachts die Augen zutun,
auch wenn sie erst nach Tagen in der Lage gewesen war, ruhig
zu schlafen. Zu tief saß die Wachsamkeit. Allmählich bewegte
sie sich entspannt, ohne dass sie ständig vorsichtige Blicke
über ihre Schultern warf. Ihre Stimmung wurde mit jedem Tag
befreiter und sie begriff, dass sie endlich am Ziel dessen
war, was sie all die Jahre ersehnt hatte. Beinahe zärtlich
strich sie über das Holz der Reling und sah zur
Belle Rouge
hinüber, die sich wie stets backbord der
La Poudrière
befand. Nicht einmal im Sturm hatte Pierre den Anschluss
verloren. Jacquotte wusste nicht, was sie davon halten
sollte. Er hatte sie erkannt. Es war ihr unbegreiflich, wie
ihm das gelungen war, denn sie vermochte sogar Jan zu
täuschen. Die Einzige, die sie immer durchschauen würde, war
Fayola, die von den Männern Morelle genannt wurde. Doch
selbst sie hatte Zeit gebraucht, um zu erkennen, wer hinter
der Verkleidung steckte. Zu intensiv war Antoine Du Puits zu
einem Teil ihres Wesens geworden. Er bewegte sich anders, er
sprach anders und dennoch atmete er ihre Persönlichkeit.
Dank ihm war ihr ein Leben möglich, dessen Freiheiten einer
Frau verwehrt blieben. Nur dank ihm konnte sie ein Bruder
der Küste sein. Jacquotte reckte ihr Kinn. Sie hatte viel
geopfert, um unerkannt zu bleiben. Das Rasiermesser führte
sie mittlerweile geschickter als jeder Barbier, ihre
Notdurft bezwang sie bis zum Schutz der Dunkelheit, in der
sie sich inzwischen wie ein Schatten bewegte, und den Druck
ihrer eingeschnürten Brüste sowie den kratzenden Schmutz
hatte sie über die Jahre zu ertragen gelernt. Selbst ihre
Monatsblutungen schnürte sie mit Leinen ab, ganz so wie
Fayola es ihr gezeigt hatte. Ihr Wille war stark. Sie gab
nicht vor, Antoine Du Puits zu sein, sie war Antoine Du
Puits. Andächtig berührte sie das goldene Kreuz mit der
stürzenden Taube um ihren Hals, das ihr tagtäglich Kraft
schenkte.
»Die Stadt ist wie ausgestorben«, flüsterte ein
Schiffsjunge neben ihr.
»Aye! Entweder das oder die Einwohner lauern uns auf.« Sie
reckte das Kinn, um den vorgelagerten Hafen zu erkennen.
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