Joli Rouge (German Edition)
Schiff in
den Hafen einlief. Zischend sog er die Luft ein. Er würde
Michel Le Basque zuvorkommen!
An Deck der
Fortune Noire
beobachtete Jacquotte das
Näherkommen des Ufers. Die Segel flatterten über ihrem Kopf,
als der Wind in der Hafenbucht abgebremst wurde und die
Männer damit begannen, sie einzuholen. Mit knarrenden Tauen
glitt das Schiff in das kristallklare Wasser vor Cayone.
Fischschwärme schossen vor dem Bug davon. Möwen zogen ihre
Kreise über den ankernden Schiffen und lauerten auf Abfälle
oder über Bord gefallene Ratten und Kakerlaken. Für
Jacquotte hatte die zerklüftete Insel ihren einstigen Zauber
verloren. Der Lärm der wachsenden Stadt, die sichtbare
Abholzung der Wälder und die ausschweifenden Bewohner
missfielen ihr. Die Insel unterschied sich nicht mehr von
all den anderen, denen eine Besiedlung aufgezwungen worden
war. Dennoch freute sie sich jedes Mal darauf
zurückzukehren. So sehr sie das Gefühl von Freiheit
schätzte, das ihr nur das Meer und die Weite des Horizonts
geben konnten, so sehr sehnte sie sich nach geraumer Zeit an
Land zurück. Ihr Herz gehörte Tierra Grande, aber der
Rückzugsort der Flibustier blieb Cayone. Hier trafen sich
alle, die Rang und Namen hatten, und die Männer verlangten
nach den Tavernen und Bordellen. Aus diesem Grund hatte
Tête-de-Mort Befehl erteilt, die Île de la Tortue
anzusteuern.
Sie sah zu ihm hinüber. Er stand am Steuerrad und lenkte
die
Fortune Noire
mit präziser Genauigkeit in den Hafen.
Sein Gesicht wurde von einem schwarzen Seidentuch verdeckt,
das einzig seine Augen freiließ. Der Tumor hatte sich über
die Zeit weiter ausgebreitet, und das Tuch schützte das
empfindliche Fleisch vor Sonne und Salzwasser. Jacquotte
lächelte ihm zu, aber er beachtete sie nicht. Sie wusste,
ihm war nicht wohl, dass sie in Cayone an Land gehen wollte.
Zwar versuchte er, nicht zu viel Vorsicht walten zu lassen
und sie wie jeden anderen Mann aus der Mannschaft zu
behandeln, aber seine Blicke sprachen eine andere Sprache.
Eine von der Art, die keinem verborgen blieb, der ihn
kannte.
»Gib Acht, dass er dich nicht einsperrt«, bemerkte Jan und
grinste.
Jacquotte boxte ihn in den sehnigen Oberarm. Seine Haare
waren ausgeblichen und verfilzt und standen wie die Stacheln
eines Seeigels von seinem Kopf ab. Im letzten Jahr war er
derart in die Höhe geschossen, dass er sie inzwischen um
mehr als einen Kopf überragte. Seine Hose endete knapp über
den Knien, weil er seine Prise meist schneller los war, als
ihm der Gedanke kam, sich neu einzukleiden. Sein Glück war,
dass er nicht an Gewicht zulegte. So wanderten seine
Achterstücke weiterhin in die Ausschnitte diverser Liebchen,
die er in all den Häfen hatte, sowie in den Hals der
einzigen Geliebten, der er treu war, dem Glücksspiel. Neben
Tête-de-Mort war er der beste Freund, den sie sich
vorstellen konnte.
»Ich kann auf mich selbst aufpassen«, erwiderte Jacquotte.
»Das wissen wir und du wirst nicht müde, es ständig zu
beweisen.« Jan blies die Backen auf. »Hey-ho, die rote
Jacquotte, die schnalzt mit der Peitsche und holt dich vom
Pott. Hey-ho, die rote Jacquotte, lauf los und wehr dich
oder tritt vor Gott«, sang er eines der Schanklieder.
Sie rollte die Augen, als die Männer in ihrem Rücken
miteinstimmten.
»Hey-ho, hey-ho, hey-ho, trink aus, Bruder, und greif ins
Ruder, das schwarze Schiff ist schon im Riff, der Tod ganz
nah, drum sei gewahr, die rote Jacquotte, sie handelt flott,
drum trink aus, Bruder, und greif ins Ruder! Hey-ho, hey-ho,
hey-ho!«
Sie sah in die fröhlichen Gesichter der Männer, die ihr so
vertraut geworden waren. Mit einer flinken Bewegung
entrollte sie die Peitsche, die an ihrer Hüfte hing, und
sprang auf die Reling.
»Zieht los und verbreitet das Lied in den Tavernen, auf
dass alle wissen, wen sie zu fürchten haben«, rief sie. Die
Männer jubelten, während sie ihre Fertigkeiten
demonstrierte.
»Anker werfen«, befahl Tête-de-Mort, und die Mannschaft
stob auseinander.
Mit finsterem Blick trat er zu ihr. Jacquotte schwang sich
zurück an Deck und wickelte das Ende der Peitsche um ihr
Handgelenk.
»Deine Ankunft erwarten zu viele. Du solltest sie nicht
noch darauf aufmerksam machen«, brummte er.
»Habe ich dir nicht zum wiederholten Male bewiesen, dass
deine Sorge unbegründet ist? In all der Zeit hat es die
Bruderschaft nicht gewagt, etwas zu unternehmen. Sie
fürchten uns.«
»Ich
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