Joli Rouge (German Edition)
einen Teil der Verpflegung. Trotz
des guten Geschmacks musste man darauf achten, nicht
übermäßig von dem Fleisch zu essen, da es einem das Öl aus
den Poren trieb und die Glieder schmerzen ließ. Gegen Ende
des Winters wurde es obendrein tranig und konnte nur noch
mit großen Mengen Alkohol genossen werden.
In der Nähe ankerten weitere Schiffe, um ebenfalls
Schildkröten zu erlegen. Jeden Abend feierten die
Mannschaften an dem palmengesäumten Strand. Über dem Feuer
briet man die blauschillernden Echsen, die überall auf den
Inseln zu finden waren, ebenso wie die prachtvollen
Flamingos, deren Zungen besonders geschätzt wurden. Die
berüchtigten
cayamane
, die den Inseln ihren Namen gegeben
hatten, waren Jacquotte noch nie unter die Augen gekommen.
Erschöpft stützte sie sich an der Reling ab. Das heiße
Wetter setzte ihr zu. Sie verzehrte sich nach Rum, wusste
aber, dass Tête-de-Mort wie ein Geier über die verbliebenen
Fässer wachte. Die tröstende Flucht ins Vergessen war
erstrebenswerter als weiterhin ihren Gedanken ausgesetzt zu
sein, die sie quälten, wenn sie das Bewusstsein
zurückerlangte. Sie beobachtete wie die Sonne im Meer
versank und glaubte, es müsse zischen, wenn sie das Wasser
berührte. Schwerfällig ließ sie sich zurück auf die Säcke
sinken. Einige vorwitzige Papageien trieben ihre Spiele in
der Takelage, während sich die Schweine backbord zur Ruhe
begaben. Ambroise hangelte sich ungeschickt an einer der
herabgelassenen Leitern von Bord und folgte der Mannschaft
an Land.
Als sich mit dem dunkelblauen Dunst Stille über das Schiff
legte, hörte sie seine Schritte. Es war zu einem Ritual
geworden. Er reichte ihr einen Becher mit Cidre, den er dem
Kapitän, der steuerbord von ihnen vor Anker lag, im Tausch
gegen Tabak abgeschwatzt hatte. Jacquotte stürzte das
säuerliche Getränk hinunter. Seit ihr die Verletzungen
zugefügt worden waren, gelang es ihr kaum, ihren unbändigen
Durst zu stillen. Tête-de-Mort setzte sich neben sie. Es
hatte keine Nacht gegeben, an der er nicht an ihrer Seite
wachte. Seine Augen trösteten sie, wenn sich die Wolken der
Schmerzen und des Alkohols verzogen.
»Wenn wir ablegen, werden wir diesen
inciseur
auf der
Insel zurücklassen«, murmelte Tête-de-Mort. »Er zerstückelt
meine Männer.«
Jacquotte atmete seinen vertrauten Geruch ein. »Du magst
ihn nicht?« Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»
Aucunement
! Weder ihn noch all die anderen
Knochenflicker. Einer von ihnen versuchte, mich einst mit
orviétan
zu kurieren, einem grauenhaft schmeckenden
Allheilmittel. Er glaubte, Körpergifte würden aus meinem
Gehirn austreten und mein Gesicht zerstören.«
Jacquottes Lachen schwand. Sie schätzte die allabendlichen
Gespräche mit Tête-de-Mort, die mit jedem Mal vertrauter
wurden. Auch wenn sie oftmals den Eindruck gewann, dass er
gewisse Themen so geschickt zu umschiffen wusste wie einen
Hurrikan. Sein Aussehen hatte er noch nie zur Sprache
gebracht. Er verließ damit das bekannte Terrain und segelte
in unerforschte Gewässer.
»Bisher hat er niemanden umgebracht«, beschwichtigte sie.
»Jeder stirbt, wenn man ihn oft genug zur Ader lässt«,
knurrte er und brachte Jacquotte zum Schweigen. Der Grund
für seine Verstimmung war ihr unbekannt, und sie wagte
nicht, ihn zu hinterfragen.
Doch Tête-de-Mort fuhr unbeirrt fort und seine raue Stimme
vermischte sich mit dem Geschrei der feiernden Männer am
Strand: »Ich war ein kleiner Junge, als meine Mutter Marie
mit ihrem vierten Kind schwanger ging. Unser Vater war
Mitglied an der St. Côme, der Hochschule für Medizin in
Paris. Gemeinsam mit seinem Assistenten ließ er meine Mutter
regelmäßig aus Vorsorgegründen zur Ader. Das letzte Mal, als
sie kurz vor der Niederkunft stand. Sie überlebte nicht. Mit
ihr starb unsere ungeborene Schwester, die man ihr aus dem
Bauch schnitt, um sie zu beerdigen, wie man uns erzählte.
Später erfuhr ich zufällig, dass sie auf den Tischen der
Studenten endete, bevor man sie verscharrte. Aus diesem
Grund kam ich in die Neue Welt, kaum dass meine Krankheit
entdeckt worden war.«
Jacquotte starrte in den Himmel, wo die ersten Sterne
aufleuchteten. Die Worte von Tête-de-Mort stimmten sie
nachdenklich. Ihr war nie die Idee gekommen, dass auch er
eine Familie hatte. Mit einem Mal vermisste sie Manuel. Das
schlechte Gewissen, das stets mit den Erinnerungen an ihn
verbunden war, wurde
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