Joli Rouge (German Edition)
übermächtig.
»Ich habe meinen Bruder verraten«, entfuhr es ihr. »Er war
anders, er hätte meine Hilfe benötigt, aber ich ließ ihn im
Stich.«
Tête-de-Mort schwieg, doch sie wusste, dass er verstand.
Erst nach einer Weile begann er wieder zu sprechen, und
seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern: »Ich heiße
Nicolas Lormel. Ich möchte, dass du meinen wahren Namen
kennst. Mein Bruder war Philippe Lormel, der Kapitän der
gesunkenen
Marie Veinarde
.«
Jacquotte drehte ihm interessiert den Kopf zu.
»Ich dachte, ich müsse seinen Tod rächen, deshalb folgte
ich De l’Isle nach San Jago. Inzwischen weiß ich, dass es
mein schlechtes Gewissen war, das mich dorthin trieb. Wir
hatten uns bereits vor Jahren entzweit.« Er machte eine
kurze Pause, bevor er fortfuhr: »Wir kämpften einst an der
Seite von Michel Le Basque. Sein Schiff war unser Zuhause.
Doch als mein Bruder älter wurde, rebellierte er gegen ihn.
Eines Tages dümpelten wir unweit des Rio de la Hache auf dem
Meer und lauerten auf eine Flotte aus Cartagena, die jedes
Jahr mit einigen Barken und einem großen Begleitschiff zu
einer Perlenbank segelte, um dort nach Muscheln zu tauchen.
Michel Le Basque wollte die Barken des Nachts überfallen,
doch mein Bruder schlug vor, sie tagsüber anzugreifen. Die
dreißig Männer unserer Schaluppe waren der sengenden Hitze
überdrüssig und überstimmten den Basken. So kam es, dass
mein Bruder und ich zu den Barken schwammen und zwei davon
erfolgreich in unsere Gewalt brachten. Bevor das
Geleitschiff, das wegen seines Tiefgangs vor dem Riff ankern
musste, es überhaupt bemerkte, kamen die anderen Brüder
angeschwommen. Innerhalb kurzer Zeit befanden sich alle zehn
Barken unter unserem Kommando. Wir setzten Segel und machten
uns aus dem Staub. Es war die größte Prise, die ich je
erbeutet hatte. Ich war voller Euphorie. Doch mein Bruder
traf nie am vereinbarten Treffpunkt auf der Île à Vache ein.
Ich glaubte lange, er sei tot.«
Jacquotte beobachtete, wie der Himmel sich verdunkelte.
Sie spürte die Wärme, die von Tête-de-Mort ausging. Es war
ein beruhigendes Gefühl.
»Manchmal offenbart sich einem das Gesicht der Wahrheit
erst nach einer Weile.« Er senkte den Kopf.
»Dein Bruder war nicht tot«, stellte sie fest. »Weshalb
ist er nicht zu dir zurückgekehrt?«
»Was fragst du mich aus, zum Teufel?« Die Stimmung war
umgeschlagen.
Überrascht über seine Reaktion wandte rückte sie von ihm
ab. »Ich werde zu den Männern gehen und sehen, ob ihnen
meine Gesellschaft mehr zusagt als dir.« Sie wollte sich
erheben, als er seine Hand um ihren Unterarm legte. Die
Berührung ließ sie erstarren.
»Jeder von uns bringt Opfer. Du hattest gute Gründe,
deinen Bruder zu verlassen!«
»Mein Bruder fand den Tod. Manchmal denke ich, ich
verdiene ihn ebenfalls«, erwiderte sie bitter.
Tête-de-Mort lachte. Der Druck seiner Hand ließ nach, und
Jacquotte entspannte sich ein wenig.
»Was ist daran so lustig?«
»All die Jahre war ich einzig für mich allein
verantwortlich. Ich habe den Tod besiegt und wurde selber
zum Sinnbild des Todes. Doch dann kamst du und hast mich
daran erinnert, dass ich nicht über seine Macht verfüge. Er
riss dich beinahe an sich und ich konnte nur dabei zusehen.
Es wird der Tag kommen, an dem er auch über mich richtet,
und ich frage mich, wer dann der Tod auf Erden sein wird,
den du verdienst.«
»Ich werde weiter unter deiner Flagge segeln«, erklärte
sie und sprach zum ersten Mal aus, wonach sie sich seit
langem sehnte: ein eigenes Schiff!
Tête-de-Morts Lachen erstarb. »Ich sagte dir einst, dass
ein jeder seine Geschichte an Bord eines Schiffes neu
schreibt. Du hast das getan und mittlerweile gehört uns
beiden bereits ein Stück der Vergangenheit. Aber hör mich
an, denn ich werde es dir nur ein einziges Mal sagen: Wenn
ich sterbe, dann wird dich die Mannschaft nicht als Kapitän
der
Fortune Noir
e anerkennen! Michel Le Basque ist
einflussreich und sein Handlanger L’Olonnais ein
unberechenbarer Gegner. Die wenigsten Männer sind klug
genug, um zu begreifen, dass ein durchtriebener Anführer
nicht gleichzeitig ein guter Anführer ist. L’Olonnais sät
den Wind. Ich hoffe, es ist mir vergönnt zu erleben, dass er
den Sturm erntet. Du stehst unter meinem Schutz. Wenn ich
nicht mehr bin …« Er stockte.
Jacquotte hielt den Atem an, ihre Wangen glühten. Diese
Aussage hatte sie nicht von ihm
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