Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
längst kennst?«
Die Essenz der Angst in unseren Herzen …
Jonathan schauderte, als er an die Worte seines Vaters denken musste. Er sah direkt hinein in die Finsternis und wollte plötzlich wissen, was darin verborgen lag.
»Dann wissen Sie auch, wovor ich jetzt Angst habe?«
Fast war ihm, als ob sein Gegenüber lächelte. »Du bist ein ungewöhnlicher Fall, mein Junge, denn deine größte Angst gilt nicht dir selbst. Du hast Angst um deine Eltern. Um deine Mutter, die auf unbestimmte Zeit mein Gast sein wird. Und um deinen Vater, der in seinem Bett liegt und schläft.«
Entsetzt fuhr Jonathan hoch. »Was haben Sie ihm angetan?«
Der Weltenwanderer schwieg, doch das war Antwort genug.
Tränen schossen Jonathan in die Augen. »Das werden Sie bereuen. Ich schwöre, das werden Sie bereuen …«
»Mein Junge, du wirst noch merken, dass du mich nicht einschüchtern kannst, denn im Gegensatz zu dir kenne ich keine Angst. Und selbst wenn ich dazu fähig wäre, sie zu empfinden – ein überaus reizvoller Gedanke übrigens –, hätte ich nichts, mit dem du mir drohen könntest. Nichts, das du mir nehmen könntest. Nicht einmal das Leben.«
Der Impuls aufzuspringen und zu seinem Vater zu rennen, wurde übermächtig. Jonathan konnte es nicht. Seine Arme und Beine wollten ihm nicht gehorchen. Er war dazu gezwungen, mit weit aufgerissenen Augen auf den Schatten zu starren, und der Schatten starrte unbewegt zurück.
»Lange Zeit gab es keine Hoffnung für den Großen Kreis«, sagte der Weltenwanderer. »Nun ist sie neu erwacht. Durch dich, mein Junge. Sie setzen große Erwartungen in dich, und es kommt der Tag, an dem du dich entscheiden musst.«
»Entscheiden? Wofür?«
»Wo dein Platz ist. Entscheide dich für meine Seite, und ich werde dir Dinge zeigen, die du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kannst. Die Geheimnisse der Angst werde ich dich lehren, und wie du sie zu deinem Verbündeten machst. Der Tod wird dir kein Schrecken mehr sein, weder Krankheit noch Trauer werden dir etwas anhaben können. Du wirst vergessen, was es bedeutet, Schmerzen zu haben. Alles, was die sterblichen Menschen fürchten, wird dir fremd sein. Du wirst stark sein ohne Regeln, Schranken und Bevormundung. Du wirst dir nehmen, was du begehrst, und niemand kann es dir verbieten.«
Jonathan wusste, wovon er sprach. Riot hatte in dieses Angebot eingewilligt. Er kannte weder Mitleid noch Schmerz.
Der Schatten erhob sich und blickte auf ihn herab. »Entscheidest du dich aber gegen mich, so wird die Furcht dein Begleiter sein. Du wirst alt werden, du wirst den Schmerz erfahren und das Leid. Denn eines solltest du wissen, Jonathan Harkan: Du magst dich mir in den Weg stellen, doch für alles, was du mir nimmst, werde ich dir etwas nehmen. Du hast den Riesen geweckt und Aurora vernichtet, die eine wertvolle Spionin in meinen Diensten war. Nun zahlst du den Preis dafür.«
Jonathan zitterte. »Was meinen Sie? Welchen Preis?«
»Wir sehen uns wieder, Jonathan Harkan«, gab der Schatten zurück.
Mit Gewalt riss sich Jonathan aus seiner Starre, griff zum Lichtschalter und drückte ihn. Es wurde hell in seinem Zimmer, doch der Stuhl nahe dem Fenster war leer, die Tür verschlossen. Für die Dauer eines Herzschlags glaubte er, geträumt zu haben. Dann sprang er auf, rannte die Treppen hoch in den zweiten Stock, wo sein Vater schlief. Die Tür zum Gästezimmer war verschlossen. Er riss sie auf. Das Bett, in dem Cornelius liegen sollte, war zerwühlt und leer.
»Papa! Papa, wo bist du? Hörst du mich?«
Er stürmte in den Korridor. Tür um Tür stieß er auf, und in jedem Zimmer weckte er Besucher vom Großen Kreis, die hier schliefen.
»Papa? Bist du hier?«
Die Antwort blieb aus. Auch das Badezimmer fand er leer vor. Ebenso Küche und Wohnräume. Er rannte hinaus in die Nacht.
»Wo bist du?«, schrie er. »Papa!«
Aus der Ferne kehrte das Echo seiner Stimme zurück. Es blieb die einzige Antwort, die er erhielt. Menschen kamen aus den Häusern hervor, rannten alarmiert aus den Stallungen und Schuppen, in denen sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Ihr Eyn leuchtete. Cassius drängte sich an ihnen vorbei und packte ihn.
»Jonathan! Was ist los?«
»Er war hier«, keuchte Jonathan, den Tränen nahe.
Cassius wirbelte herum. »Riot?«
»Der Weltenwanderer!«
Er konnte spüren, wie um ihn herum der Atem angehalten wurde. Das Entsetzen grub sich tief in die Gesichter der Menschen. Auch sein Onkel rang um Fassung.
»Bist du
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