Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
Licht seiner Nachttischlampe. Seine Klinge schien unzerbrechlich und schärfer als jedes Messer aus Stahl. Die Zeichnungen in der Blutrinne ließen winzige Figuren erkennen, die Geschichten aus einem weit entfernten Land erzählten. Jonathan wog es in seiner Hand. Der hölzerne Griff war umwickelt mit Wildleder, das sich weich anfühlte und zugleich einen festen Halt ermöglichte. Endlich fand sich eine Gelegenheit, seine schlummernden Kräfte zu testen. Er wusste nicht, wie es funktionierte, aber es konnte nicht schaden, einen Versuch zu wagen.
Nervös kramte er einen alten Schulatlas hervor und suchte eine passende Karte. Seine Eltern hatten ein Sprüchlein aufgesagt, bevor sie das Messer benutzten – ein Sprüchlein, das leider für ihn unverständlich geblieben war. Wie hatten sie das Messer dazu gebracht, sie zu Aurora zu führen? Er durchdachte mehrere Formeln, bis er einen zaghaften Versuch wagte:
»Warum will mein Onkel nicht, dass ich das Dorf verlasse? Wenn da etwas ist, dann zeige mir, wo ich es finden kann!«
Er konzentrierte sich und ließ das Messer los. Es polterte zu Boden, ohne wunderliche Dinge zu vollbringen. Drei weitere Versuche gingen ebenfalls schief, ehe Jonathan das Messer enttäuscht wieder versteckte.
Er warf sich auf sein Bett und bemerkte die Stille der Nacht, die ihm fremd war in dieser Vollkommenheit. Hier draußen auf dem Land rührte sich nachts keine Stimme mehr, kein Autolärm, keine Musik. Das Leben der Stadt schien unendlich weit weg. Andererseits: Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass es ihn ausgerechnet nach Bärenfels verschlagen hatte. Vielleicht konnte er hier die Antworten auf seine Fragen finden. In den Augen seines Vaters war er nur ein Kind, er hatte kein Vertrauen in seine Fähigkeiten. Wie auch, dachte Jonathan. Wie konnte er von anderen verlangen, dass sie an ihn glaubten, wenn er sich nicht einmal selbst vertraute?
So konnte es nicht weitergehen.
Er traf einen Entschluss: Egal womit Cassius ihm drohte, egal welche Gefahren ihn erwarteten – er würde herausfinden, was es mit dem Herz des Lazarus auf sich hatte. Er würde alles tun, was nötig war, um seinen Eltern zu helfen.
Es gab einen Weg.
Es musste einen geben.
Siebtes Kapitel
Die verlorene Straße
Es war kurz nach acht Uhr morgens, als Cassius mit seinem Motorrad in den Burghof donnerte. Er trug eine schwarze Lederjacke und einen martialischen Helm. Als er mit schweren Schritten in die Küche stapfte, zitterte das Geschirr in der Vitrine. Jonathan war bereits seit einer Stunde wach, hatte aufgeräumt und Frühstück gemacht. Seine Hoffnung auf ein freundliches Wort zerschlug sich allerdings rasch; sein Onkel brachte nur ein Brummen hervor, das ebenso »Guten Morgen« wie »Geh mir aus den Augen« heißen konnte. Er machte keinerlei Anstalten, sich an den gedeckten Tisch zu setzen, sondern goss sich eine Tasse Kaffee ein und verschwand wieder. Jonathan blieb allein, was allerdings nicht weiter schlimm war.
Nach dem Frühstück ging er in sein Zimmer und tat so, als ob er las. Anfangs überwachte Cassius ihn argwöhnisch. Nach ein paar Stunden entschied er aber offenbar, dass Jonathan gehorsam war und keinen Unsinn anstellen würde, denn er verließ das Haus. Jonathan konnte hören, wie sein Motorrad knatternd durch das Tor verschwand.
Dann wurde es still. Jetzt oder nie!
Er stand auf und durchsuchte die Zimmer der Burg. Er begann in der Bibliothek, die von schweren Balken durchzogen war. Vor dem Kamin stand ein Ohrensessel, der so alt zu sein schien wie das Gemäuer; der Geruch von Asche und Staub hatte sich tief in die Fasern gegraben. In den Regalen türmten sich alte Bücher über Biologie, Pharmazie und Medizin neben schweren Enzyklopädien. Jonathan fand nichts, das ihm weiterhelfen konnte.
Ein Korridor führte ihn in den Rittersaal. Raue Wände aus Buckelquadern stützten die Decke, auf der man noch jahrhundertealte Malereien erahnen konnte, deren Farben längst verblichen waren. Eine Rüstung stand dort, als hielte sie Wache. Ihr Innerstes war ebenso leer wie die wurmstichige Truhe daneben.
Hier war nichts zu finden. Auf dem Dachboden, dessen Bohlen beängstigend ächzten, lagerten rostige Pflugscharen und Leiterwagen.
Als Nächstes untersuchte er den Bergfried, den hohen, runden Wehrturm im Zentrum der Burganlage. Die Tür war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Was mochte Cassius hier versteckt halten? Jonathan bemerkte eine Tür, die in fünf oder sechs Metern Höhe lag.
Weitere Kostenlose Bücher