Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, sich Leiter und Seile zu besorgen und einen Kletterversuch zu wagen, verwarf ihn aber gleich wieder. Wenn er sich den Hals brach, war niemandem geholfen.
An die Ringmauer der Burg schmiegte sich ein zweistöckiges Nebenhaus, das von Efeu überwuchert wurde. Jonathan hatte Glück: Hier hatte Cassius sein Archiv, und es war nicht abgeschlossen.
Jeder Raum war voll mit Regalen und Schränken. Jonathan riss Schubladen auf, blätterte durch Bücher, blickte hinter Bilder und kramte sich durch Regale. Irgendwo musste es einen Hinweis geben, was seine Familie vor ihm verbarg. Immerhin fand er eine alte Karte von Bärenfels, die er in die Tasche steckte. Er stellte alles wieder zurück an seinen Platz und achtete sorgsam darauf, keine Spuren zu hinterlassen.
Eine Stunde verging. Seine Finger kribbelten von der Kälte, die die alten Mauern der Burg ausstrahlten, und noch immer hatte er keinen einzigen Hinweis gefunden, der ihm bei seiner Suche weiterhelfen würde.
Mit hängenden Schultern kehrte er in das Haupthaus der Burg zurück. Plötzlich bemerkte er den Geruch von modriger Fäulnis. Ein kalter Windhauch trug ihn unter einer Tür hindurch. Jonathan rüttelte daran, bis das Schloss aufsprang. Vor ihm lag eine Kellertreppe aus groben Steinen, deren Ende in der Dunkelheit versank. Nach einem Lichtschalter suchte Jonathan vergeblich. Immerhin fand er eine Taschenlampe, die sein Onkel neben die Tür an einen Nagel gehängt hatte. Vorsichtig stieg er die feuchten Steinstufen hinab, bis er sich in einem Gewölbekeller wiederfand. Kisten mit Vorräten stapelten sich an den Wänden. Daneben Weinflaschen und Regale voller Einmachgläser.
Angst kroch ihm den Nacken hoch, als das Licht der Taschenlampe langsam schwächer wurde. Er sah sich die Einmachgläser genauer an, in denen undefinierbare Dinge in dunkler Flüssigkeit schwammen. Dahinter war etwas versteckt. Rasch ging Jonathan in die Knie, räumte die Gläser beiseite und streckte seine Hände in die Dunkelheit. Er fand eine alte Kiste, die von Spinnweben bedeckt war. Angeekelt beseitigte er den klebrigen Überzug und öffnete sie. Die Kiste enthielt Schwarz-Weiß-Bilder seiner Urgroßeltern. Jonathan kannte ihre Gesichter von einem Familienalbum, das ihm Cornelius vor langer Zeit einmal gezeigt hatte. Die Fotos stammten aus einer Zeit, die ihm fremd war, einem vergangenen Jahrhundert, in dem die Menschen stets Sonntagsanzüge trugen und mit strengen Mienen in die Kamera blickten. Dahinter fand er Postkarten und Briefe. Einer davon war so abgegriffen, dass das Papier zwischen seinen Fingern zu zerfallen drohte. Er war an Valerie Harkan gerichtet, Jonathans Urgroßmutter, die bis zu ihrem Tod in Bärenfels gelebt hatte. Nur mühsam konnte er die geschwungenen Schriftzeichen entziffern:
Meine Liebste,
die Iden des Septembers liegen vor mir, und noch immer kann ich nicht zu sagen, wie lange mich meine Aufgabe noch zwingt, Dir fernzubleiben. Ängstige Dich nicht, mein Herz, und lass Dir versichern, dass es mir gut geht.
Ich schreibe diese Zeilen in großer Eile, denn es geschehen beunruhigende Dinge. Der Große Kreis hat einen Beschluss gefasst. Fortan ist es verboten, in die östlichen Wälder zu gehen. Das Haus darf nicht zerstört werden, aber es muss in Vergessenheit geraten, auf dass das Böse ruhig schlafen kann und die Tragödie der letzten Tage niemals wieder geschieht. Wir werden alles tun, was dafür nötig ist.
Für uns alle ist dies ein schmerzlicher Schritt, immerhin war das Haus unserer Familie und dem Kreis lange eine Heimat, die Schutz und Sicherheit versprochen hat. Aber was lamentiere ich! Die Entscheidung ist gefallen, und ich kann es nicht ändern.
Sag es den Kindern! Meide die Wälder! Meide das Haus am Ende der Straße!
Bitte verzeih diese hektischen Zeilen, doch der Aufbruch naht. Oh, wie sehr mein Herz sich nach Dir verzehrt! Ich zähle die Stunden bis zu meiner Rückkehr!
Dein Dich ewig liebender
Theodor Harkan
Der Große Kreis … seine Eltern hatten davon gesprochen, als sie Aurora begegnet waren. Die östlichen Wälder … damit konnten nur die Wälder östlich von Bärenfels gemeint sein. Das Haus am Ende der Straße … davon hörte Jonathan zum ersten Mal. Und von welcher Tragödie war im Brief die Rede? Auf dass das Böse ruhig schlafen kann … das klang nicht sehr beruhigend. Von welchem Bösen sprach Theodor Harkan? Jonathan las den Brief ein zweites und drittes Mal und fand
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