Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
zumindest in einer Hinsicht Gewissheit: Das Haus, das im Brief erwähnt wurde, war einmal im Besitz seiner Familie gewesen und bewahrte ein düsteres Geheimnis. Es konnte nicht zerstört werden, wohl aber in Vergessenheit geraten. Das bedeutete, es stand noch irgendwo im Wald. Natürlich! Deswegen hatte Cassius sein strenges Verbot ausgesprochen, Bärenfels nicht zu verlassen. Er wollte ganz sichergehen, dass Jonathan niemals den Spuren der Vergangenheit folgte. Den Spuren seiner Familie.
Aber warum?
Was mochte in diesem Haus versteckt sein, dass selbst ein Mann wie Cassius es fürchtete? Das Herz des Lazarus?
Jonathan kannte seinen Urgroßvater Theodor nur aus Erzählungen. Er war viele Jahre vor seiner Geburt unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Sein Tod war ein weiteres Rätsel in dieser vertrackten Geschichte. Gewiss hatte er mit dem Haus und den »beunruhigenden Dingen« zu tun, von denen er gesprochen hatte. Endlich hatte Jonathan einen Anhaltspunkt, wonach er suchen konnte: das Haus in den östlichen Wäldern. Fiebrig versteckte er den Brief in seiner Jackentasche und schob die Kiste zurück hinter das Regal. Gerade noch rechtzeitig: Als er aus dem Keller kam, hörte er Cassius’ Stimme.
»Jonathan!«
Der Schreck fuhr ihm in die Glieder. Die Stimme kam vom Hof. Rasch schaltete er das Licht aus und rannte in sein Zimmer, wo er sich aufs Bett warf und ein Buch zur Hand nahm. Im selben Augenblick steckte Cassius seinen Kopf durch die Tür.
»Hier bist du«, brummte er. »Bist du taub? Warum kommst du nicht, wenn ich dich rufe?«
»Ich habe gelesen.«
»Dein Vater hat mir schon gesagt, dass du ein Träumer bist. Ab in die Küche. Es gibt Essen.«
Jonathan stieg aus dem Bett. Er war froh, dass Cassius nicht bemerkte, dass er in der Hektik vergessen hatte, seine schmutzigen Stiefel auszuziehen. Der verräterische Staub des Kellers klebte noch daran.
Nach einem schweigsamen Abendessen war Jonathan wieder in seinem Zimmer. Auch wenn seine Tür stets offen war, hatte er das Gefühl, eingesperrt zu sein. Immer wieder wanderten seine Gedanken zu seinen Eltern. Wenn das Telefon klingelte, schlug sein Herz schneller, und er lauschte hoffnungsvoll, um kurz darauf enttäuscht zu werden.
* * *
Am nächsten Tag blieb er im Bett und verweigerte das Frühstück. Die Resignation breitete sich in seinem Herz aus wie ein schleichendes Gift.
»Jonathan! Raus aus dem Bett, beweg dich!«, rief sein Onkel vom Hof.
Jonathan rührte sich nicht. Es war ihm egal, ob er ihn bestrafte.
Eine Minute verging, dann stapfte Cassius mit schweren Schritten die Treppen hoch. Ohne anzuklopfen, stieß er die Tür auf.
»Was machst du für ein Gesicht, als hätte es dir in die Suppe geregnet? Los, steh auf.«
Jonathan wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden, doch sein Onkel ließ nicht locker.
»Ich will dir etwas zeigen, und ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Widerwillig folgte Jonathan seinem Onkel auf den Hof. Cassius zog ein klappriges Metallgestell aus dem Schuppen, das offenbar einmal ein Fahrrad gewesen war.
»Ist ein bisschen eingerostet, aber mit ein wenig Seife und Schmieröl kannst du es sicher wieder flottmachen. Jungs in deinem Alter fahren doch Rad, oder?«
Das Rad war ein trauriger Haufen Blech mit lose hängenden Reifen, rostiger Kette und abgeschraubtem Lenker. Aber es war ein fahrbarer Untersatz, und wenn Jonathan es reparieren konnte, hatte er das ideale Fahrzeug für alle zukünftigen Erkundungstouren.
»Überschlag dich nur nicht gleich vor Freude«, brummte Cassius. »Werkzeug ist im Schuppen. Wenn du es repariert hast, kannst du meinetwegen ein wenig damit herumfahren. Aber nur innerhalb des Ortes. Und vor Einbruch der Dunkelheit bist du wieder hier. Verstanden?«
»Klar«, sagte Jonathan.
Er bemerkte, dass Cassius auf seinen Arm starrte. Der Pulli war hochgerutscht. Für den Bruchteil einer Sekunde war das Eyn sichtbar. Rasch zog er den Ärmel runter und hoffte, dass Cassius nichts bemerkt hatte, doch es war zu spät. Er zog eine seltsame Miene, und man konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Was auch immer ihm durch den Kopf ging, er behielt es für sich und stapfte schweigend zurück ins Haus. Jonathan nahm es mit einem Schulterzucken hin.
Der Gedanke, bald etwas mobiler zu sein, verlieh ihm neuen Mut. Rasch besorgte er sich Putzlappen und Werkzeug und befreite das Rad vom Dreck. Nach vielen Stunden harter Arbeit hatte er einen kümmerlichen Haufen Schrott in ein Fahrrad
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