Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
verwandelt. Es klapperte ein wenig, fuhr aber erstaunlich leichtgängig.
Langsam rollte er den Berg hinunter, durch das Burgtor, über die steinerne Brücke, bis hinaus ins Dorf. Ein herrliches Gefühl von Freiheit überkam ihn, als er durch die schmalen Gassen rauschte und den Sommerwind im Gesicht spürte. Einige Frauen drehten ihre Köpfe. Es geschah wohl nicht oft, dass sich ein Fremder in diese Gegend verirrte.
Er trat in die Pedale und raste durch Straßen, Höfe und Gassen, bis er den Marktplatz von Bärenfels fand, einen malerischen Fleck mit Geschäften und Gasthäusern. Die Sonne stand hoch am Himmel. Zeit genug für einen weiteren Ausflug. Er besann sich auf den Hinweis, den er im Brief seines Urgroßvaters entdeckt hatte.
Meide die östlichen Wälder …
Er brauchte kein magisches Messer, um zu wissen, wo er seine Suche beginnen würde.
* * *
Bald hatte er das Dorf verlassen und fuhr über flaches Land. Links von ihm leuchteten Weizenfelder in der Nachmittagssonne, rechts von ihm Obstbaumhaine mit Tupfen roter Früchte. Einige Kilometer weiter östlich fand er einen See, der von Weiden und struppigen Büschen gesäumt war.
Dann lagen die östlichen Wälder vor ihm wie eine geheimnisvolle grüne Mauer. Er ließ sein Rad am Ufer des Sees zurück und überschritt die Grenze des Waldes. Über seinem Kopf rauschte der Wind, und es wurde merklich kühler. Er fand einen Weg, der vor vielen Jahren einmal eine Straße gewesen sein musste. Kaum hundert Meter weiter endete sie im Nichts. Der Wald hatte sie in seinem grünen Schlund verschluckt. Jonathan seufzte. Nein, es hatte keinen Sinn, weiterzugehen. Er würde sich nur verlaufen. Missmutig trat er den Rückweg an. Jetzt blieb ihm nur noch das gläserne Messer. Er musste endlich herausfinden, wie es funktionierte.
Als er den Wald verließ, bemerkte er eine Gruppe von Jugendlichen, die sein Rad zuschanden ritten. Jonathan spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Schnell versteckte er sich hinter Buschwerk.
Er sah vier Jungs, kaum älter als er selbst, und ein Mädchen mit struppigen blonden Haaren und einem abgewetzten T-Shirt. Sie führte sich auf wie der fünfte Junge im Bunde, auch wenn sie gut zwei Köpfe kleiner war als der Rest. Jonathan musste an eine verrückte Fee denken.
Ein hagerer Junge mit Knollennase und roten Haaren, den die anderen »Rotwang« nannten, fuhr am See entlang und schrie: »Los, Eliane! Oder hast du die Hosen voll?«
Die Fee spuckte vor ihm auf den Boden. »Hättest du wohl gerne. Schieb deinen Hintern zur Seite.«
Noch während der Junge mit der Knollennase fuhr, sprang sie auf das Rad. Rotwang hielt sie fest und versuchte, die zusätzliche Last auszubalancieren, doch die beiden gerieten ins Trudeln und kippten in die Wiese. Das Mädchen stürzte Hals über Kopf, und für einen Moment glaubte Jonathan, dass sie sich jeden Knochen im Leib gebrochen hatte. Zu seiner Überraschung war sie sofort wieder auf den Beinen und lachte triumphierend. Rotwang wollte einen zweiten Versuch wagen. In diesem Augenblick trat ein Junge mit grüner Armeejacke an ihn heran.
»Verzieh dich.«
Er unterschied sich von den vier anderen. Sie nannten ihn »Emir«, auch wenn er keinerlei Ähnlichkeit mit einem Abkömmling eines orientalischen Adelsgeschlechts hatte. Unter seiner abgewetzten Kappe quoll strähniges dunkelblondes Haar hervor, und sein narbengespicktes Gesicht ließ erahnen, dass er aus mehr als einer Prügelei siegreich hervorgegangen war. Mit Typen wie ihm war nicht zu spaßen. Ohne Zweifel war er der Anführer der Gruppe.
Er schubste Rotwang zur Seite. »Die Kiste ist so klapprig, die bricht selbst unter deinem dürren Hintern zusammen. Außerdem hab ich sie gefunden. Und was bedeutet das?«
»Dass sie dir gehört«, murrte Rotwang und zog eine Grimasse.
Emir lachte und gab ihm einen Klaps. »Lass mich mal sehen, ob der Schrotthaufen schwimmen kann.«
Jonathan erschrak. Er wollte sein Rad in den See werfen! Das konnte er auf keinen Fall zulassen. Zu Fuß würde er Stunden brauchen, um nach Hause zu kommen, ganz abgesehen von dem Ärger, den er sich bei Cassius einhandelte. Ohne nachzudenken, rannte er aus dem Wald und schrie lautstark: »Hey! Lass das!«
Emir rückte seine Kappe zurecht und verzog das Gesicht. »Das ist dann wohl der Besuch vom alten Cassius. Und ich dachte immer, die Großstadt-Jungs sind ganz harte Typen. Nicht solche halben Portionen.«
Rotwang kicherte. »Eher eine viertel Portion.«
»Was suchst du
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