Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
nicht allzu viel am Komfort verbessert. Er warf einen Blick in den Innenhof. Cassius und sein Vater diskutierten auf wenig brüderliche Art und Weise.
»Ausgerechnet hierher bringst du ihn. Von allen möglichen Orten auf der Welt! Du bist noch ein größerer Idiot, als ich dachte«, schimpfte Cassius.
»Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Ich habe niemanden, dem ich trauen kann. Bei dir ist er wenigstens in Sicherheit.«
»In Sicherheit? Niemand ist mehr in Sicherheit, und schon gar nicht hier draußen. Daran bist du schuld!«
»Cassius, verdammt noch mal. Mir ist bewusst, dass es gefährlich ist. Aber Jonathan weiß nichts. Er wird keine Schwierigkeiten machen. Versprich mir einfach, dass du auf ihn aufpasst.«
Cassius schien zu ahnen, dass Jonathan sie hören konnte. Er schaltete die Kreissäge ein, die am offenen Schuppen stand. Ihr Kreischen überlagerte das Gespräch und vereitelte jeden weiteren Lauschangriff. Er sah, dass die beiden Brüder wild gestikulierten, aber worum es ging, konnte er nicht mehr verstehen.
Ausgerechnet hierher bringst du ihn. Von allen möglichen Orten auf der Welt …
Wütend ließ Jonathan sich auf die Matratze fallen und starrte an die holzvertäfelte Decke. Er hasste das Gefühl der Ohnmacht. Niemand redete mit ihm, niemand sagte ihm die Wahrheit. Er fühlte sich wie ein Bauer auf einem Schachbrett, der achtlos hin- und hergeschoben wurde.
Nach einigen Minuten streckte Cornelius seinen Kopf in sein Zimmer. »Jonathan? Kommst du kurz runter?«
»Du gehst schon?«
»Ich muss.«
Jonathan kletterte vom Bett und folgte seinem Vater hinaus in die Kälte. Von Cassius war keine Spur zu sehen, und er war froh darüber.
»Er hat lausige Manieren, aber er ist im Grunde kein schlechter Kerl«, sagte Cornelius, der seine Gedanken erriet.
»Ich kann ihn nicht ausstehen«, gab Jonathan schroff zurück.
Sein Vater lachte begütigend. »Komm schon, du musst ihm einfach ein bisschen Zeit geben. Wenn du ihn besser kennst, wirst du ihn sicher mögen. Er ist eben ein bisschen … eigen.«
Nichts, was sein Vater vorbringen könnte, würde Jonathan überzeugen, aber es spielte auch keine Rolle. Er dachte jetzt nicht an Cassius, er dachte nur daran, dass seine Mutter in Gefahr war. Die Einsamkeit legte sich kalt um sein Herz. Cornelius nahm ihn bei den Schultern und sah ihm fest in die Augen.
»Solange ich weg bin, tust du, was Cassius sagt, egal wie dumm oder unsinnig es klingen mag. Wenn du etwas bemerkst, das dir seltsam erscheint, berichte es ihm. Und sollte jemand hier auftauchen, der dir komisch vorkommt, dann nimm die Beine in die Hand und lauf! Versuche nicht, den Helden zu spielen. Cassius wird dich beschützen, also bleib in seiner Nähe.«
»Der soll mich beschützen? Wovor denn?«
»Vertrau mir einfach, Jonathan. Und mach dir keine Sorgen. Ich bin bald wieder da. Drei Tage von heute an gerechnet. In drei Tagen sind wir wieder zusammen. Hast du verstanden?«
Jonathan brachte ein Nicken zustande. Seine Kehle war zugeschnürt. Cornelius strich ihm mit den Händen durch das struppige Haar und nahm ihn dann noch einmal fest in die Arme.
Dann stieg er in den Wagen und fuhr davon.
* * *
Jonathan verstaute sein Gepäck, versteckte das gläserne Messer sorgsam im Bettgestell und richtete sein neues Zimmer ein. Als er einen Blick auf sein Handy warf, wurden seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt: kein Empfang. Er war von der Außenwelt abgeschnitten.
Am Nachmittag erkundete er die Burg – zumindest die Bereiche, die Cassius nicht mit dicken Schlössern und Bretterverschlägen versperrt hatte. Er tat alles, um nicht zur Ruhe zu kommen, doch es half nichts. Immer wieder kreisten seine Gedanken um seine Mutter, um seinen Vater und um den einen Satz von Cassius: Ausgerechnet hierher bringst du ihn …
Die Abenddämmerung fiel über Bärenfels. Schwalben zogen ihre Kreise um den Bergfried, der sich wie eine steinerne Faust in den Himmel erhob. Jonathan lag auf dem Bett, als Cassius ohne anzuklopfen in sein Zimmer platzte.
»Ab in die Küche!«
Auch wenn er den Befehlston nicht leiden konnte, folgte er seinem Onkel widerspruchslos. Wie der Rest der Burg war auch die Küche vollgestopft mit Plunder. Bilder und Antiquitäten, die immens wertvoll wirkten, standen neben wertlosem Kram aus dem Souvenirladen. Das ganze Haus hatte etwas von einem Museumslager, und Cassius war der kauzige Archivar.
»Setz dich!«, befahl er.
Jonathan nahm am Tisch Platz, der nahe dem Ofen stand.
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